Ein überbordender Bilderkosmos

In einer Doppelausstellung in Cottbus wird das Werk des Lausitzer Maler-Philosophen Dieter Zimmermann gewürdigt

Dieter Zimmermann; Bröckeln des Fundaments, aus der Folge Zeitfluss - Lausitz, 2020/22, Öl auf Acryl auf Leinwand

Dieter Zimmermann: Himmelsleitern, 2019, Acryl, Öl auf Leinwand Fotos: Thomas Kläber

Er genießt die Freiheit eines Science-fiction-Illustrators, seine Figuren, Köpfe, Geistwesen, Objekte, Interieurs, Tages- und Nacht-Landschaften, Himmelsformationen, irdischen und kosmischen Regionen sind Phantasiegebilde. Dabei bedient er sich einer mehrschichtigen, konterkarierenden, von Absurdität und Dada-Humor lebenden Darstellungsweise, der Verbindung räumlich getrennter, aber zeitgleicher Ereignisse, der Bühne, die für seine Figuren zur Kulisse ihres Dramas wird.

Der seit 1981 im Spreewald-Dörfchen Brahmow lebende Maler und Grafiker Dieter Zimmermann, der jüngst seinen 80. Geburtstag begangen hat, ist kein Verkünder von Weisheiten, sondern eher von Zweifeln, von nagenden Zweifeln an den Scheingewissheiten unseres Tuns und Denkens. Kausalketten knüpft er mühelos zu Endlosschleifen, Ordnungssysteme wandeln sich unter seiner Hand zu Irrgärten.  Aus der Lausitzer Landschaft, aus den eindringlichen Horizontalen und Vertikalen der Spreewald-Landschaft hat er seine Bildwelt entwickelt. Ihre kalligraphischen Linien waren bald einer gleichmäßigen Aufteilung des Raumes in Miniatur-Quadrate gewichen, von der er hoffte, dass sie eine geistige Kontinuität überall in der Natur offenbaren würde, die dicht und leer, positiv und negativ, horizontal und vertikal vereinte. Wie im Kubismus ist die Oberfläche weniger eine Komposition aus Gegenständen als vielmehr eine Fläche von miteinander verbundenen Kraftströmen, die sehr subtil abgewandelt sind, hier dicht und pulsierend, dort in stagnierender Ruhe, duftig zart. Hier werden das Glitzern des Lichtes und die sich bewegenden und wiederholenden Formen des Wassers auf dem flachen Spreewald-Spiegel in farblicher Abstimmung variiert, so dass die ganze Oberfläche zu pulsieren scheint. Diese aufgeteilte Fläche von funkelnden Koordinaten wurde Abbild der Materie, eine Schaubühne, auf der sich Zimmermanns reduzierter Stil entfaltet –  Rot, Blau, Grün und Gelb, dazu Schwarz und Weiss, die „Nichtfarben“, horizontale und vertikale Achsen und keine Formen außer dem Viereck und Rechteck. Fließstrukturen, Punktsysteme, Kästchenstruktur.

Halluzinatorisch tauchen seine Figuren  auf und verschwinden wieder. Am organischen Entstehen, Verändern und Vergehen entwickelt er seine Bildzeichen. Wie Hieroglyphen vereinfachter menschlicher Gesten stehen die Gestaltzeichen im wie mauerhaften Grund eingeschrieben. Kürzel menschlich-gliederhafter Gestaltbildungen. Traumhaft-phantastische Liniengespinste. Alles ist richtungslos, voller Einfälle, voller Gesichte, ein He-rauswachsen eines Elements aus dem anderen, eine unendliche Kette von Assoziationen.

Zimmermann hat seine Phantasie-Schauspiele zweimal erlebt: Einmal im täglichen Alltag, in seiner Lausitzer Umwelt, in den Medien, in Film und Fernsehen. Und dann hat er sie sich mit der ungeheuren Imaginationskraft des Malers vorgestellt, in der zwingenden traumartigen Eigenschaft seiner Bildergeschichten – Wimmelbilder, Bilderpuzzle, Bilderrätsel, Bilder in Bildern  kann man sie auch nennen. Sie stehen plötzlich vor uns, unvermittelt und ohne Zweideutigkeiten. Seine Landschaften sind Detailvisionen: Die Furchen der aufgepflügten Erde, die Spreekanäle, die steifen Arabesken der Bäume, die Baumstümpfe, die Himmelsleitern, die einheimischen und exotischen  Tiere,  Scheunen mit den scharfen Kanten und die Tiere, die flächig und hell nebeneinander aufgereiht sind. Einige Motive tauchen immer wieder auf, aber es hat mit ihnen schon eine Metamorphose stattgefunden. Es ist diese Mutationsfähigkeit des Lebens, dessen unbezähmbare, laichartige Vermehrung  – alles kann unter dem Druck einer drängenden animalischen Vitalität eine andere Form annehmen -, die ihm die Surrealisten nahebrachten.

Zimmermann hat sein Bestiarium voll im Griff. Er vermag unterschiedliche und räumlich entfernte Dinge so miteinander zu verknüpfen, dass sie sich in den neuen visuellen Bezügen gegenseitig aufheben. Die riesige Hand, die der Frau Einhalt gebietet, kann auch „umgedreht“ werden. Diese Doppeldeutigkeiten spielen sich normalerweise in einer Traumlandschaft ab, in der sich die merkwürdigsten Dinge treffen. Bei Zimmermann schaut man immer wie durch die verkehrte Seite eines Fernglases auf eine leuchtend klare, vergiftete und verkleinerte Welt, deren tiefe Perspektiven und dunkle halluzinatorische Schatten das Auge faszinieren, aber man kann ihre Richtigkeit nicht nachprüfen.

Wir erleben detailfreudige Inszenierungen und weiträumige Kameraperspektiven. Einzelszenen sind stockartig neben-, über- und ineinander aufgebaut oder rotieren in Kreisen und Ellipsen. Die Wege und Stege erweisen sich als schwankend und in die Irre führend, Rissigkeiten, Bruchlinien, Unterhöhlungen der Festigkeit der Materie sind an vielen Gegenständen abzuleisten. Das Ruinöse steckt bereits im Detail. Zimmermann zeichnet Architekturen wie Potemkinsche Dorffassaden, lässt durch prismatische Brechungen die Leere wirken.

Er liebt es, in seinen Bildern ganze Geschichten auszugraben. Jeden Tag werden wir durch Fernsehen, Film und Fotografie mit einem Strom von Bildern überflutet. Wir überfliegen sie nur noch. Bilder haben nur noch eine Chance, in unserer Erinnerung haften zu bleiben, wenn sie zeichenhaft sind: einfach, klar und wiederholbar. Zimmermann malt in Serien, das hatten auch schon frühere Künstler, etwa Monet, getan. Aber als Monet seine Heuhaufen und Seerosen malte, sollten seine „Wiederholungen“ aufzeigen, wie das Auge winzige Unterschiede aufdecken kann und wie diese Unterschiede sich zu einer ständig veränderten Wirklichkeit summieren. Diese Bilder handelten vom Unterscheidungsvermögen mitten in der Fülle. Heute haben wir Gleichheit im Überfluss, und das ist Zimmermanns Thema. Ein einfaches narratives Zeichen – ein Bild aus einem Comicstrip, das keine ästhetischen Ansprüche stellt, sondern nur eine einfache Geschichte erzählt – er wollte die unwahrscheinlichsten Gegenstände zu Sinnbildern des Körpers und des Ichs machen. Seine Arbeiten deuten auf eine durchlässige Welt hin, eine Welt voller Dinge, die ständig eine Bedeutung ablegen und eine neue annehmen.  Sie verändern sich laufend in Material, Umfang, Stofflichkeit und Struktur. Mit der Vielfalt ihrer Bedeutungen  und ihrer Bereitschaft, sich verändern zu lassen. Bei diesem Künstler hat es die Dingwelt irgendwie geschafft, sich gegen ihre Besitzer zu erheben.

Der Blick des Betrachters geht nach oben und nach unten und gleichzeitig vorwärts. Die Darstellung einer solchen, von der Empfindung des Betrachters begleiteten Bewegungsvorstellung, die nicht mehr auf den ruhenden Fluchtpunkt bezogen ist, sondern die dem Geschehen  innewohnende absolute Bewegung ausdrücken will, kann dies nur mit Hilfe hieroglyphenartiger Kürzel erreichen. Der Gegenstand wird fragmentarisch aufgespalten, mehr-mals gezeigt, und zwar im Rhythmus des zu suggerierenden Bewegungsablaufes verschoben.

Das erinnert an die frühen Versuche in der Fotografie, Bewegungsabläufe festzuhalten, wobei sich das Motiv ruckartig verschiebt und dabei seine Stellung verändert. In der Auffassung von Simultaneität, in der Einbindung des Gegenständlichen in übergeordnete Bewegungszusammenhänge, der facettierenden Aufschlüsselung der Bildfläche, um sie mit Lichtwerten auszustatten, durch welche die Welt überhaupt erst sichtbar gemacht werden kann.

Flächenfüllende Bildgitter. Eine seltsame Kraft zur Verdinglichung seiner Empfindungen lässt aus den einzelnen addierten Motiven, aus rhythmischen Wiederholungen einfacher typischer Grundformen eine neue Wirklichkeit entstehen.   

Zimmermann verlangt den denkenden, nicht nur schauenden Betrachter, der seinen Wegen folgen, durchaus auch eigene Be-obachtungen einbringen soll, aber auch in die Irre geführt wird.
Das sind seine Bilder auch: Spuk-Inszenierungen, Protokolle einer möglichen Wirklichkeit, ungemütliche Stillleben, stille Katastrophen, strahlende Apokalypsen. Dramatik zwischen materieller und psychischer Realität.


Zum 80. Geburtstag des Künstlers findet in Cottbus unter dem Titel „Vom Ausschwärmen der Bilder“ eine Doppelausstellung statt: In der Kunsthalle Lausitz werden Arbeiten auf Leinwand und Hinterglasmalerei und in der Galerie MA/RIE/MIX 23 werden Arbeiten auf Papier bis 25. Februar 2023 gezeigt. Begleitet wird das Projekt von „Zimmermanns Bilderbuch“, in dem es - wie in einem Wimmelbilderbuch - immer wieder Neues, witzig, tiefsinnig und erkenntnisreich, zu entdecken gibt.