Eine Welt der Kontraste

Die Berliner Philharmoniker eröffneten das George-Enescu-Festival in Bukarest

Patricia Kopatchinskaja schaffte die schwierige Solopartitur in Arnold Schönbergs Violinkonzert brillant und kraftvoll. Foto: Andrei Gîndac/Festival Enescu

Seit einiger Zeit ist Bukarest im Musikfieber, denn nach zweijähriger Pause ist wieder Festivalzeit und die Wahl der Konzerte bei der Dichte an hochkarätigen Ensembles und großen Stars der Musikwelt eine echte Herausforderung. In einem Punkt war man sich jedoch einig: Das Eröffnungskonzert am 31. August in der Sala Palatului, mit den Berliner Philharmonikern und Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie sowie George Enescus 2. Rumänischen Rhapsodie war ein absolutes Highlight. Und welch eine Chance, so kurz nach dem Antrittskonzert des neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko bei den Philharmonikern in Berlin, nach Salzburg und Luzern, wo das Orchester in den Tagen zuvor aufgetreten war, Zeuge des Beginns dieser neuen musikalischen Ära, von der die Philharmoniker selbst sprechen, zu werden.

Beethoven für unsere Zeit 

Als Reverenz an George Enescu spielten die Berliner eingangs seine beliebte und innige 2. Rhapsodie mit viel Gefühl und Grazie, zärtlich-delikat wie sie selten zu hören ist, eine Lesart, die sich von der gängigen, auf das rein tänzerisch-folkloristische Element fokussierten, unterscheidet. Es hatte eine Innigkeit, die überzeugte, wobei die zauberhaften Soli der Flöte (Emmanuel Pahud) und der Oboe (Albrecht Mayer) die hohe Kunst der Philharmoniker offenbarte.

Vom ersten Einsatz war Beethovens Neunte in vielerlei Hinsicht neu: Die Dynamik, Direktheit, die Schnörkellosigkeit des Ansatzes ist verblüffend. Die Schwere, das Hymnische, Breite, das oft die Herangehensweise an dieses Opus Magnum charakterisiert, ist hier nicht vorhanden. Drängend, rastlos, bewegt, nach vorne blickend dirigiert Kirill Petrenko und versetzt Musiker und Zuhörer gleichermaßen in einen Zustand steter Wachsamkeit. Es entsteht eine unglaubliche Spannung, geschaffen durch die Intensität des Dirigats. Das Orchester folgt mit der sagenhaften Präzision, die für dieses Ensemble ein Markenzeichen ist. Im dritten Satz (Adagio molto e cantabile) tritt dann ein Augenblick der Ruhe und Introspektion ein, lyrisch, doch klar und transparent.

Die Auflösung findet im 4. Satz mit dem Schlusschor aus Schillers Ode „An die Freude“ statt: Organisch wächst die Spannung vom ersten Thema der Celli bis zum ergreifenden Tutti und die Steigerung durch den Einsatz des Chores. Der Chor der Bukarester George-Enescu-Philharmonie meisterte die Aufgabe, diese sehr intensive Lesart der Sinfonie zu gestalten, solide. Das Sängerensemble um die fabelhafte Marlis Petersen, Sopran, sowie Elisabeth Kulman, Mezzosopran, Benjamin Bruns, Tenor, und den exzellenten Kwangchul Youn, Bass, sorgte für den Glanz des Finales.

Der Eröffnungsabend des Festivals offenbarte, welch spannende Zeit auf die Berliner Philharmoniker zukommt. Mit Kirill Petrenko haben sie sich für einen der originellsten Musiker unserer Zeit entschieden. Er ist eine Persönlichkeit, die es vermag, die Brüche der Welt, in der wir leben, mit all ihren Kontrasten, musikalisch zu widerspiegeln.

In einer Welt der Kontraste

Das zweite Konzert der Berliner Philharmoniker im Rahmen des Festivals umfasste Arnold Schönbergs Violinkonzert sowie Peter Tschaikowskys 5. Sinfonie. Schönbergs Zwölftonwerk stellt höchste Ansprüche an den Solisten. Patricia Kopatchinskaja spielt souverän und mit engelhafter Grazie, zart und hart, lieblich und brutal, technisch überzeugend. Das Orchester begleitet aufmerksam, schafft die besondere Atmosphäre dieses Werks.

In diesem Rahmen wird auch der rumänische Geiger Laurentius Dinca, nach 35 Jahren im Dienste der Philharmoniker, im Applaus des Publikums gefeiert und spielt gemeinsam mit der Solistin des Abends die Zugabe, György Ligetis „Ballade und Tanz“, ein Stück inspiriert von der rumänischen Folklore.
In Tschaikowskys 5. Sinfonie können die Philharmoniker mit ihrer hohen Klangkultur aus dem Vollen schöpfen: Einerseits herrlich lyrisch, wunderbar sanft, dann wieder stürmisch-bewegt und tragisch, in einem stetigen Wechsel der Gemütszustände. In der Mimik und der Gestik des Maestro lässt sich diese Spannung stets deutlich ablesen: mal lyrisch-träumerisch, mal tänzerisch leicht, dann wieder scharf und wuchtig, immer intensiv und akribisch sowie schlüssig in der Konstruktion. Das Orchester überzeugt mit seiner perfekten Intonation, wobei die Mitglieder immer wieder solistische Glanzpunkte setzen, so Stefan Dohr mit einem intensiven, klangschönen Hornsolo im 2. Satz, Andreas Ottensamer (Klarinette) und Albrecht Mayer (Oboe).

Poesie für zwölf Cellisten 

Nach der intensiven Sinfonie gingen die zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker in die Verlängerung – sie waren nämlich die Protagonisten des Late-Night-Konzerts im Saal des Bukarester Athenäums. Es sollte ein denkwürdiger Abend werden, denn die Musiker spielten mit sichtlichem Spaß und ansteckender guter Laune – herausragend im Ensemble und in den zahlreichen solistischen Partien.

Von Julius Klengels „Hymnus“ über Werke von Dvorak, Fauré bis Boris Blacher und Astor Piazzolla reichte die Bandbreite der gespielten Komponisten. Und am Ende war man sich einig: Die Perfektion hat sein Ensemble gefunden. Es war eine Reise in die schier unerschöpflichen Möglichkeiten des Cellos, gespielt mit atemberaubender Präzision und Klangschönheit. Die hohe Kunst des Cellospiels riss das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin, Standing Ovations inklusive.
Die Berliner hinterlassen in Bukarest einen bleibenden Eindruck. Und nebenbei wurde das Beethoven-Jahr 2020 in der rumänischen Hauptstadt eingeleitet und die Frage nach der Lesart seiner Musik für die heutige Zeit in den Raum gestellt.