Eine Welt in Trümmern

Radierungen und Lithografien von Otto Dix im Bukarester Nationalen Kunstmuseum

Otto Dix: „Sturmtruppe geht unter Gas vor“ (Radierung, Aquatinta und Kaltnadel, 1924)

In den beiden Kretzulescu-Sälen des Bukarester Nationalen Kunstmuseums sind derzeit und noch bis zum 25. Mai dieses Jahres insgesamt 86 Radierungen und Lithografien von Otto Dix aus den Jahren 1920 bis 1924 zu besichtigen. Veranstalter der Ausstellung sind neben dem Kunstmuseum selbst das Bukarester Goethe-Institut sowie das Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart. Im ersten der beiden Säle sind Werke des bedeutenden deutschen Malers und Grafikers mit verschiedenen Motiven und Sujets ausgestellt, die als bildnerische Kommentare zur Zeit und Gesellschaft der Zwanziger Jahre in Deutschland betrachtet werden können, während der zweite Saal ausschließlich einem einzigen Thema gewidmet ist: dem aus 50 Blättern bestehenden Radierzyklus Otto Dix’ mit dem Titel „Der Krieg“.

Dieser Zyklus erschien 1924, zehn Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und in jenem Jahr, das die Pazifisten damals zum Anti-Kriegsjahr erklärt hatten. Der Zyklus besteht aus fünf Mappen mit je zehn Radierungen. Die Auflage der signierten Mappen betrug 70 Exemplare, in Bukarest ist die Nummer 21 der Werkfolge vollständig ausgestellt. Der Zyklus, der noch im Jahr seines Erscheinens in fünfzehn deutschen Städten zu sehen war, schlug damals ein wie eine Bombe, weil Otto Dix darin der Heldenverehrung des tapferen Soldaten und der Verherrlichung seines Opfermutes ein anderes Bild vom Krieg entgegensetzte, das in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung verschwiegen oder verdrängt wurde: das Grauen des Todes, der Horror des Sterbens, der Schrecken kriegerischer Gewalt.

Und Otto Dix wusste, wovon er in seinem Zyklus bildnerisch sprach! Wie viele seiner Altersgenossen, wie viele Maler, Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle jener Jahre, hatte sich der dreiundzwanzigjährige Kunststudent 1914 in den Sommertagen des Hurra-Patriotismus freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Seine Einsatzorte an der Westfront kann man anhand der Ortsangaben zu den einzelnen Radierungen seines Zyklus „Der Krieg“ gleichsam mit biografischer Akkuratesse nachverfolgen. Er kämpft in der Somme-Schlacht, kämpft in Flandern bei Ypern, wird zwischendurch an die Ostfront versetzt, kehrt dann ins Artois zurück, liegt in den Stellungskämpfen an der Yser und an der Schelde und lässt sich noch in den letzten Kriegsmonaten wieder an die Ostfront versetzen. Es grenzt an ein Wunder, dass Otto Dix als aktiv kämpfender Soldat, noch dazu an den Brennpunkten der Kampfhandlungen stationiert, den Ersten Weltkrieg überleben konnte.

Aus den Kriegsjahren sind Hunderte seiner Kreidezeichnungen sowie zahlreiche Gouachen in leuchtenden Farben erhalten. In ihnen kommt die dynamische Seite des Krieges zum Tragen, während in Dix’ erst später nach Kriegsende entstandenem Radierzyklus „Der Krieg“ das unabänderliche, hässliche und ungeschminkte Gesicht des Krieges mit seinen grauenvollen Konsequenzen für den Menschen und das Menschliche überhaupt zum Gegenstand wird. Dieser nahezu fatalistischen Sichtweise entspricht die im Zyklus waltende Düsternis der Atmosphäre und seine im wahrsten Sinne des Wortes ätzende Darstellung. Das Grauen und das Gespenstische der abgebildeten Kriegsszenen wird dabei durch starke Hell-Dunkel-Kontraste erzielt, besonders schauerlich in den Darstellungen nächtlicher, durch Granatenbeschuss erleuchteter Schlachtfelder.

Otto Dix stellt sich mit seinem Radierzyklus deutlich in die Tradition Goyas – man denke etwa an dessen „Los Desastres de la Guerra“ –, geht jedoch hierin weit über Goya hinaus. Bei Dix gibt es keine Hoffnung mehr auf Vernunft oder Transzendenz, vielmehr dominiert schiere Zerstörung und pure, blinde, sinnlose Gewalt. Giftgasopfer, zu Landschaften geschichtete Leichenberge bei Langemark, zerfetzte Soldaten, Gräber, tote Tiere, Verwundete mit schreckhaft geweiteten Augen, Wahnsinnige, die durch Ruinen taumeln (darunter eine Mutter, die, ins Leere blickend, ihrem toten Säugling die Brust geben will) – das ist das Personal, das den Radierzyklus „Der Krieg“ bevölkert. In „Totentanz Anno Domini 17“ hängen getötete Soldaten mit grausam verrenkten Gliedern in den Stacheldrahtverhauen des Stellungskrieges, als würden sie gleich einen Reigen des Verbleichens formen wollen.

Ein Blatt aus dem Zyklus zeigt zwei auf dem Boden liegende, halb verweste Schädel in einer solchen Pose, als seien sie gerade in ein vertrauliches Gespräch miteinander vertieft, und ein anderes Blatt mit dem Titel „Transplantation“ präsentiert einen Soldaten mit einer extremen Kopfverletzung. Das, was der Kubismus künstlerisch versuchte, die bildnerische Vereinigung zweier Gesichter in einem einzigen, ist hier bei Otto Dix auf grausame Weise realistisch und sachlich Wirklichkeit geworden.

Dieselbe Atmosphäre der Gewalt, der Verstümmelung und der blindwütigen Zerstörung herrscht auch in den anderen Werken von Otto Dix, die in Bukarest zu sehen sind. Die Radierung „Sexualmörder“ (1920) stellt einen Mann dar, der mit zerstückelten Leichenteilen gleichsam wie ein Zirkusartist jongliert, und die Radierung „Sexualverbrechen“ (1922) zeigt eine ermordete Prostituierte mit gespreizten Beinen und heraushängenden Gedärmen, hingestreckt auf ein Bett, neben dem gerade zwei Hunde kopulieren. Eine Straßenszene aus dem Jahre 1920 gibt nicht nur grausam verstümmelte Kriegskrüppel wieder, sondern die Bildkomposition selbst erscheint der Amputation anheim gefallen. Man sieht einen Arm, der niemandem zu gehören scheint, ein Bein, das aus dem Bild hinausstrebt, einen Kopf, der fremd in es hereinragt. Ähnliches kann man auch in der Ätzradierung „Streichholzhändler“ aus dem Jahre 1920 konstatieren, von der es eine aus demselben Jahr stammende Version als Ölgemälde gibt, das in der Stuttgarter Staatsgalerie hängt.

Selbst die traumähnliche und eskapistische Welt des Zirkus wird von Otto Dix ins Brutale und Destruktive gewendet. Eine Dompteuse mit Katzenaugen, Peitsche und Revolver in den Händen, Stirnband und Diadem, wird in Dix’ Radierung selbst zum Raubtier, und ein als „Verächter des Todes“ bezeichnetes Artistenpaar mit auf die Haut tätowierten Totenköpfen erscheint in dieser Hypostase geradezu als Verkünder des Todes. In einem „Fleischerladen“ betitelten Blatt sieht man zwei Metzger am Werk, die Schweine tranchieren und dabei selbst das Aussehen von Schweinen haben. Das wenige Jahre vor dieser Radierung entstandene expressionistische Gedicht „Der Arzt II“ von Gottfried Benn formuliert auf poetische Weise die Quintessenz des Dixschen Menschenbildes jener Zeit. Der Eingangsvers jenes Gedichts lautet: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch.“