Erkundung der menschlichen Tiefen

Tschechows „Die Möwe“ beim Nationalen Theaterfestival

Foto: DSTT

Das Nationale Theaterfestival (FNT) jährte sich heuer zum 23. Mal. Im Rahmen des Festivals, das Anfang des Monats zu Ende ging, sind 22 Theatergruppen aufgetreten, darunter vier ungarischsprachige (aus Klausenburg/ Cluj, Temeswar/ Timişoara, Târgu-Mureş/ Neumarkt und Sfântu Gheorghe), das Jüdische Staatstheater Bukarest sowie das Deutsche Staatstheater Temeswar (DSTT). Das DSTT präsentierte in der Hauptstadt Tschechows Drama „Die Möwe“ gleich drei Mal: Ursprünglich waren in der Bukarester Oper nur zwei Aufführungen vorgesehen, die Eintrittskarten waren aber so schnell ausverkauft, dass die Organisatoren sich entschieden haben, noch eine Vorstellung dem Programm hinzuzufügen.

Im Gegensatz zur Uraufführung in Sankt Petersburg vor mehr als 100 Jahren hatte Tschechows Drama bei seiner Premiere vor ein paar Monaten am Deutschen Staatstheater Temeswar einen großen Erfolg. Das Theaterstück wurde vom renommierten ukrainischen Gastregisseur Yuri Kordonsky inszeniert, eine wichtige Rolle für die typisch melancholische Stimmung der großen russischen Meisterwerke spielte vor allem die Tongestaltung, für die Octavian Horváth zeichnet.

Vorgestellt bekommt der Zuschauer eine sehr raffinierte psychologische Analyse einer Gruppe von Menschen: Das Leben der Hauptfiguren spielt sich auf einem Landsitz im zaristischen Russland in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ab. Das Hauptgewicht legt der Regisseur auf Aspekte wie die Seele und den Geist des menschlichen Wesens. „Ich suche das Theater, das die Tiefen des Menschen erkundet“, erklärt Kordonsky seine Arbeitsweise. Unerfüllte Liebesgeschichten stellen menschliche Schwächen und Konflikte dar, die dem Zuschauer einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Es geht um viel mehr als Dominanzbeziehungen oder gescheiterte Liebesgeschichten: In Frage wird das menschliche Dasein und dessen Sinn gestellt.  

Ein fader, schaukelnder Mond in Form eines mit Papier bedeckten Kandelabers wacht über die leere Landschaft. Der düsteren musikalischen Begleitung lauschend, den Geruch der schwebenden Schwefel-Wölkchen  über einen turbulenten, aus Satin improvisierten See wahrnehmend,und mit einer Scheibe Zitrone in der Hand nimmt der Zuschauer die Vorstellung mit allen Sinnesorganen auf. Am Anfang ist ein Theaterstück in einem Theaterstück zu sehen: In fiebriger Aufregung bringt der junge Kostja (Horia Săvescu) mithilfe seiner Muse Nina (Olga Török) sein Drama über die Bühne. Kostja ist als Autor ständig auf der Suche nach neuen Formen: Die leere aber stürmische Landschaft am Anfang kann nur den allgemeinen Seelenzustand seiner Mitmenschen widerspiegeln und als Vorzeichen eines bitteren Endes gelten. Der werdende Schriftstellers gerät in Konflikt mit seiner Mutter (Ioana Iacob), einer bekannten Schauspielerin, da sie ihn mit oder ohne Absicht ständig tyranisiert.

Die Figurenkonstellation kann auf einer grauenvollen Weise als humorvoll gelten: Krampfhaft krallt sich die alternde Mutter an ihrem flatterlhaften Liebhaber fest, dem Schriftsteller Trigorin. Andererseits lässt sich Kostjas große Liebe, die angehende Schauspielerin Nina, von Trigorin verführen. In Kostja ist Mascha, die Tochter des Gutsvewalters, schwer verliebt und der Lehrer Medwedjenko liebt Mascha. Dieser Teufelskreis der Liebe könnte Tschechows Entscheidung begründen, sein Werk „Lustspiel“ zu nennen.

Entgegengesetzte Kräfte und Willensrichtungen treffen heftig aufeinander. Ein wichtiger Hinweis für die chaotische Innenwelt der Figuren, die sich einander das Leben zur Hölle machen, ist die Bühnendekoration: Allerlei Objekte fliegen durch die Luft, werden in Stücke zerrissen oder geschoben, aber niemals in Ordnung gebracht.
Die Möwe ist ein Leitmotiv, das in  verschiedenen Formen auftaucht: Erstmals anwesend ist sie durch die lautmalerischen Schreie der unschuldigen Nina. Sehr emotional aufgeladen ist die Erschießung der Möwe, die der enttäuschte Kostja in einer Tüte voller Blut Nina zu Füßen wirft. Die Möwe wird letztendlich auf Wunsch von Trigorin ausgestopft. Innerlich leer wird die gescheiterte Schauspielerin Nina, die Trigorin in die Stadt folgt und danach von ihm verlassen wird. Obwohl er ein paar Jahre später zu einem erfolgreichen Schriftsteller geworden ist, hat der nervenschwache Kostja ein ödes Leben ohne Nina, die seine Liebe nicht erwidert. Letztendlich gelingt Kostja der zweite Selbstmordversuch.

„Die Möwe“ spricht alle an: Was Tschechow durch sein Drama beweisen wollte, wird von den Schauspielern makellos über die Bühne gebracht. Kordonsky stellt den wesentlichen Inhalt durch ausgeklügelte Einzelheiten und Anspielungen in einer tief poetischen Vorstellung zusammen: Der gequälte Kostja, die verzweifelte Nina, die cholerische Irina, die hoffnungslose Mascha – alle erzählen verschleiert eine und dieselbe Wahrheit und ihr Beziehungsgeflecht ist so gut verständlich, dass es fast seelisch schmerzhaft ist, dem Drama beizuwohnen. 

In den Hauptrollen treten Ioana Iacob (Irina), Horia Săvescu (Kostja), Olga Török (Nina, im Bild), Anne-Marie Waldeck (Mascha), Radu Vulpe (Trigorin) und Konstantin Keidel (Medwedjenko) auf. Für die Dramaturgie ist Valerie Seufert zuständig, für das Kostümbild Dragoş Buhagiar.