„Es sungen drei Engel“ – „O Mensch! Gib acht!“

Gustav Mahlers dritte Sinfonie im Bukarester Athenäum

Am 15. Dezember waren das Sinfonieorchester und der Frauenchor der Philharmonie „George Enescu“, ergänzt durch den Kinderchor des Rumänischen Rundfunks, mit Gustav Mahlers dritter Sinfonie im Bukarester Athenäum zu hören. Gesangssolistin war die rumänische Mezzosopranistin Aura Twarowska, die auch als Solistin an der Wiener Staatsoper wirkt. Die musikalische Leitung des Abends hatte Cristian Măcelaru inne, Iosif Ion Prunner hatte den Frauenchor einstudiert und Voicu Popescu den von Mahler vorgeschriebenen Knabenchor, der in der Bukarester Version des Werkes allerdings, mit Ausnahme zweier Knäblein, durchweg aus Mädchen bestand.
Das monumentale Werk, das im Bukarester Athenäum einhundert Minuten dauerte und ohne Pause dargeboten wurde, reiht sich in den Reigen derjenigen Mahlerschen Sinfonien ein, in denen der Komponist Texte aus der von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegebenen romantischen Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ vertonte. Brachte die vorausgegangene zweite Sinfonie die Lieder „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ und „Urlicht“ melodisch zur Geltung, ließ die nachfolgende vierte Sinfonie das Lied „Der Himmel hängt voller Geigen“ erklingen, so brachte die dritte Sinfonie im Bukarester Athenäum ein Lied zu Gehör, das in der Wunderhorn-Sammlung den Titel „Armer Kinder Bettlerlied“ trägt.

Wie Mahler in seiner zweiten Sinfonie neben den Wunderhorn-Texten zudem Teile eines geistlichen Liedes von Friedrich Gottlieb Klopstock mit dem Titel „Die Auferstehung“ ertönen lässt, so setzt auch die dritte Sinfonie, zusätzlich zu den Liedtexten aus der Romantik, ein Poem aus Friedrich Nietzsches Werk „Also sprach Zarathustra“ in Musik: „Das trunkne Lied“ aus dem vierten und letzten Teil dieser bedeutenden philosophischen Dichtung. Und wie der Schlusssatz der zweiten Sinfonie mit fast vierzig Minuten Spieldauer als der längste Sinfoniesatz Gustav Mahlers gilt, so steht der Kopfsatz der dritten Sinfonie, der im Bukarester Athenäum fünfunddreißig Minuten in Anspruch nahm, diesem in Länge und Gewichtigkeit kaum nach.

Der Gesamteindruck der Fülle, ja Überfülle, der sich dem Zuhörer dieses monumentalen Werkes im Bukares-ter Athenäum darbot, lässt eine diskursive Erinnerung des musikalischen Geschehens kaum zu, vielmehr drängen sich einzelne Augenblicke des musikalischen Genusses, einzelne Momente akustischer Überraschung, einzelne Höhepunkte des sinfonischen Verlaufs ins Gedächtnis, die allesamt das umfassende Hörerlebnis prägten und dieses in der Reflexion auf das Vernommene nachhallen lassen. So blieb aus dem Kopfsatz des sechs Sätze umfassenden Werkes vor allem das Fragmentarische und Collagehafte des musikalischen Geschehens in Erinnerung, der schnelle Wechsel der Stimmungen, der Klangfarben, der Dynamik und des Duktus, die von Cristian Măcelaru meisterhaft gehandhabt und inszeniert wurden. Der Sturz aus einem Tutti-Fortissimo in zarte, subtile und filigrane Tonfiguren einzelner Instrumentengruppen, dieses erschütternden, an Bruckner geschulten Mahlerschen Hörerlebnisses konnte man an diesem Abend im Bukarester Athenäum gleich mehrfach und immer wieder von Neuem ergriffen teilhaftig werden. Gewaltige Marschrhythmen, dissonante Jahrmarktsmusik, und immer wieder mikroskopische Arabesken, oftmals solistisch vorgetragen, ließen den ersten Satz zu einer Sinfonie in der Sinfonie werden, dessen Ende denn auch von einigen Zuhörern mit Applaus quittiert wurde.

Der zweite und der dritte Satz der Sinfonie, ein Menuett und ein Scherzo, fügten sich unmittelbar und bruchlos in die von Cristian Măcelaru entworfenen Klanggemälde des ersten Satzes ein, wobei hier ein weiteres Stilmerkmal, das der Verfremdung oder Verzerrung, bereichernd hinzutrat. Harmonische Idyllen brechen bei Mahler um in bedrohliche Szenarien, Bilder der Unschuld kippen in Abgründe des Schreckens, Freude und Überschwang atmen Tragikomik, Lustiges mündet in Groteskes. Das im Scherzo wiederholte Erklingen des Posthornes – in Bukarest durch eine Ferntrompete wiedergegeben – erinnerte daran, dass Romantisches und Volkstümliches bei Mahler keine heilsamen Refugien mehr darstellen, sondern zu Quellen des Schmerzes und der Not werden.
Mit dem Auftreten der menschlichen Stimme im vierten Satz der dritten Sinfonie erreicht das musikalische Geschehen eine neue und höhere Qualität. Das wiederholte „Oh Mensch!“, das Aura Twarowska mit warmem Timbre volltönend erklingen ließ, gefolgt von Versen wie „Aus tiefem Traum bin ich erwacht“, spiritualisierte das zuvor Erlebte und brachte das erregte Treiben der drei vorangegangenen Sätze zur Ruhe. Den von Nietzsche evozierten Gefühlen Weh, Leid und Lust tritt im Altsolo des „Trunknen Lieds“ das Wissen um die Ewigkeit gegenüber, welches gleichwohl von jenen usurpiert zu werden droht, denn „alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

Der fünfte Satz wartete mit einem weiteren akustischen und zugleich optischen Genuss auf. Die menschlichen Stimmen – der Frauenchor ganz hinten unter dem Orgelprospekt, der Kinderchor in den beiden seitlichen Bühnenlogen, und die Gesangssolistin ganz vorne neben dem Dirigenten – umrahmten sinnbildlich die instrumentalen Stimmen und umhüllten sie klangvoll mit ihren engelgleichen Melodien: „Es sungen drei Engel einen süßen Gesang, / Mit Freuden es selig in den Himmel klang.“ Insbesondere das alternierende „Bimm bamm“ des Kinderchores, das mit schönen Stereoeffekten links und rechts aus den beiden Seitenlogen erklang, sorgte für unvergessliche Momente des Konzertabends im Athenäum.

Der sechste und letzte Satz, der auch motivisch an den monumentalen Kopfsatz anknüpft, beschließt den sinfonischen Gang durch eine Vielzahl von Höhen und Tiefen, Harmonien und Dissonanzen, Triumphen und Zusammenbrüchen, indem er das Hauptthema dieses Adagio-Satzes schließlich zu einer Apotheose führt, die den Schmerz endgültig überwindet. Hier, in dieser 1902 uraufgeführten spätromantischen Sinfonie, klingen noch Denkfiguren nach, die bereits in der ersten romantischen Erzählung der deutschen Literatur, in Wilhelm Heinrich Wackenroders Erzählung „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger“ aus dem Jahre 1796, angeklungen waren. Kunstfrömmigkeit und Andacht überwinden den Schmerz und das Ungenügen am prosaischen Alltag. In diesen wurde man im Bukares-ter Athenäum dann auch schnell wieder zurückgeholt: Dafür sorgten schon die Applaudierenden, die es dem Schlussakkord nicht gestatteten, verhauchend zu verschweben, sondern die sich vielmehr eifrig bemühten, die Stille nach dem prächtigen Finalklang mit ihren vorschnellen Beifallsbekundungen charakteristisch zu untermalen.