„Freunde kommt, wir haben die Welt entdeckt“

Peter K. Wehrli im Gespräch mit dem Dada-Künstler Marcel Iancu im Jahre 1981

Peter Wehrli im Gespräch mit Marcel Iancu

1981 stellte in Zürich der aus Rumänien stammende Dada-Künstler Marcel Iancu (1895 – 1984) in der Galerie „Sprüngli“ aus, just am selben Ort, an dem er 1916/17 zur Blütezeit des Dadaismus gewirkt hatte. Bei dieser Gelegenheit hat der schweizerische Schriftsteller Peter Wehrli in deutscher Sprache folgendes Gespräch mit dem damals in Israel lebenden Marcel Iancu geführt.
 

Herr Iancu, Sie sind 1916 in der Absicht nach Zürich gekommen, an der Technischen Hochschule Architektur zu studieren. Der eigentliche Anlass: Architektur...

Die ursprüngliche Absicht war eigentlich: Ich wollte Kunst studieren. Aber meine Eltern haben als Bedingung gestellt, dass ich einen handfesteren Beruf beherrsche, Architektur, das war der Freibrief dafür, dass sie mich nach Zürich fahren ließen. So kam ich und hab mich eingeschrieben und habe gleichzeitig neben dem Architekturstudium mit großer Freude auch Kunst studiert.
 

Aber wie sind Sie denn zu den Dadaisten gestoßen, die ja damals ihr Wesen oder ihr Unwesen getrieben haben?

Ich muss Ihnen erzählen, dass wir, als wir hergekommen sind zum Studium, durch den Kriegszustand, der Rumänien erfasst hatte, vollständig abgeschnitten worden sind von den Angehörigen, die uns unterhielten. So begann ich mit dem Bruder eine Lauferei in der alten Stadt, um Arbeit zu suchen. Malerei konnte ich, aber es war unmöglich, etwas zu verkaufen. So haben wir uns entschlossen, Kabarettsänger zu werden! Ich kannte französische Lieder noch von Rumänien her, mein Bruder war ein guter Pianist, und wir haben die Altstadt nach Auftrittsmöglichkeiten abgeklappert, und in einigen Kabaretten „haben wir mit Gesang gesungen“. Eines Tages kamen wir zu einem Kabarett, das uns merkwürdig schien: Da war Hugo Ball, und er sagte mir: „Lieber Freund, Du bist doch Maler. Hier hast Du die Wände; zeig, was Du kannst. Du wirst teilnehmen an unserem literarischen Kabarett und... bring alle Deine Freunde mit!“ Und ich hatte gerade mit Arp und Täuber und Tzara und Hülsenbeck ein Treffen, und ich sagte ihnen: „Kommt, wir haben die Welt entdeckt!“ Und in kurzer Zeit – das war noch 1916 – musste ich, um davon leben zu können, das Singen mit dem Ausstellen verbinden, und so ergab sich mein erster Kontakt mit der Kunst in Zürich, das ist der Grund, warum ich Zürich gerne habe.
 

Das war also das „Cabaret Voltaire“, das Hugo Ball so benannt hatte, in der Spiegelgasse, in der ehemaligen Meierei. Bemerkenswert erscheint mir schon, dass Sie also durch den Gesang zu den Dadaisten gestoßen sind und nicht über die Malerei, wie man es einem angehenden Künstler eher zuschreiben würde.

Es war sicher beides eine taugliche Einstimmung, eine geistige Vorbereitung, in die Ideen der neuen Kunst, die ich schon aus meiner Heimat Rumänien mitgebracht hatte. Und hier dann hat sich das alles entwickelt in der schönsten Weise.
 

Aber können Sie uns schildern, wie sich die Abende in diesem Cabaret abgespielt haben. Es muss ja recht ungebärdig zugegangen sein...

Es waren glänzende Abende! Wir haben gewöhnlich um 9 Uhr abends ein Treffen gehabt zwischen uns, weil tagsüber mussten wir arbeiten, mussten wir etwas schaffen. Und erst abends kamen wir zusammen. Ein Abend brachte Volkslieder aus der russischen Welt. Und da kamen aus dem Publikum einige Leute heraus und spielten mit uns auf der Bühne, sangen und tanzten sogar Volkstänze. Eines Abends war es ein französischer Abend, wo man Dichtungen und Chansonnetten hörte. Ein anderer Abend war javanischen Tänzen gewidmet. Also, die Abende waren lebendig, voller Dichtung, voller Poesie und Tanz. Das Publikum war, sagen wir, beglückt, aber keiner hat verstanden, was wir wollten! Es war eine... eine Reaktion auf das Moderne im Geiste. Eigentlich hätte doch die Jugend unsere Komplizen sein sollen... aber sie wollten das nicht verstehen! Wir haben dann gelernt, dass wir, um etwas Neues zu machen, das Alte zerstören müssen!
 

Also Sie reden da von Dichtung, Poesie und Tanz. Aber bei Hugo Ball habe ich gelesen, dass ja an diesen Abenden viel Lärm und Klamauk war, und dass das Publikum protestierte.

Sie tranken Bier und stritten die ganze Zeit gegen uns, wollten unsere Ideen nicht annehmen... Aber die Freude an diesem Miterleben der künstlerischen Revolution war so eine Attraktion für die Jugend, dass wir jeden Abend vollen Saal gehabt haben. Es kamen sogar Leute vom Ausland; ich erinnere mich an einen Abend, an dem eine Gruppe von Studenten von der Wiener Universität kam, zusammen mit Professor Jung, dem Psychiater, sie wollten herausfinden, ob wir meschugge sind oder normale Menschen waren.
 

Und wie war das Ergebnis dieser Untersuchungen aus Wien?

Das Ergebnis war, dass wir die Leute irgendwie überzeugen konnten. Jedenfalls haben sie uns nicht interniert.
 

Sie haben einen der Dada-Abende in einem Bild festgehalten, das heute verschollen ist.

Das war ein literarischer Abend, denk ich mir. Die Emmy Hennings sang, der Tzara las seine „Gedichte in Bewegungen“, und Hülsenbeck hat auch protestiert usw. Das war ein lebendiger Abend. Da waren Masken, die ich gemacht habe, die nachher immer wieder benützt wurden. Aber diese Abende – leider konnten wir dem Zustrom nicht genügend nachkommen. Nach fünf Wochen mussten wir das „Cabaret Voltaire“ verlassen. Warum? Da kam die Polizei und klopfte an die Tür und sagte: „Jetzt ist Polizeistunde, ihr müsst schließen!“ Ich habe gekämpft mit den Leuten – vier, fünf Wochen lang, solange das Cabaret noch bestand. Und eines Tages mussten wir die ganze Arbeit verlassen, alle Malereien auf den Wänden, alles wurde weggeschleppt, und wir mussten ein Lokal suchen. Und da kam unser Freund Han Coray und sagte uns: „Kinder, Ihr seid gerettet. Ich gebe Euch die Galerie ‘Sprüngli’ in der Mitte der Bahnhofstraße, eine der schönsten und der wichtigsten Bauten im Zentrum von Zürich“. Denken Sie sich, was das für ein Aufruhr war, als wir in der Mitte der Stadt, am Paradeplatz, jeden Abend Vorführungen, Demonstrationen – dieselben wie im Cabaret – in einem besseren, einem höheren Grad sogar, ausführen konnten. Hugo Ball, der ja Regisseur in München war, hat uns Abende mit Kokoschkas Theaterstücken vermittelt, und ich habe Masken dafür geschaffen... Das waren großartige Aufführungen.

Ah, das muss Kokoschkas Stück „Sphinx und Strohmann“ gewesen sein...

Ja, ja, „Sphinx und Strohmann“. Ich habe Masken beigesteuert. Das war etwas ganz Außerordentliches für das Publikum. Wir hatten jeden Tag mehr und mehr Zuschauer. Zum Glück ist „Sprüngli“ eine Galerie, die genug Platz hatte, und da konnten wir alles entwickeln. Eines Abends haben wir die Mary Wigman gehabt, die Tänzerin. Die kam aus Wien, glaub ich, oder aus München. Und sie machte großartige Abende für unsern Zweck. Dann ist dort auch der Musiker aufgetreten, den die meisten Schweizer heute überhaupt nicht mehr kennen: Hans Heusser. Das waren hinreißende Abende. Hugo Ball hat uns dann verlassen, weil er sich nicht mit den Finanzproblemen der großen Galerie belasten wollte. Er hat sich zurückgezogen, nachdem er in einem glänzenden Kartonkostüm, das ich ihm gemacht habe, seine ab-strakten Dichtungen gelesen hat: „...jolifanto bambla ô falli bambla...“.
 

Jetzt interessiert mich eigentlich vor allem das: Was war denn eigentlich die Gemeinsamkeit, die diese Künstler von Dada alle verband?

Die Ideologie, die wir im Manifest formuliert haben. Wir sagten: Kunst ist nicht für reiche Sammler gemacht, auch nicht für Banksafes und nicht für den Handel. Kunst muss dem Volk gehören, muss allen gehören! Das hat uns alle verbunden. Jeder hatte seine Sprache, seinen eigenen Stil. Aber die Idee, dass das dem Volk gehört und dass nicht Geschäfte und Handel bestimmend sein sollen, wenn es um Kunst geht, die keine Safe-Arbeit für die Banken sein darf. Das war das Bindeglied zwischen uns!
 

Ist es nicht sehr eigenartig, dass eine so ungebärdige, kühne Ideologie dann ausgerechnet an der Bahnhofstraße ihren Sitz hatte, also im Zentrum von Gewinn und Erwerb?

Das war, ich glaube, ein großes Erlebnis für das ganze... für das ganze schweizerische Leben... Es wurde derart bekannt, unsere ganze Demonstration, dass wir einen Namen dafür suchen mussten! Und es war wirklich so, dass wir im „Bellevue“-Café zusammensaßen...
 

...das war das Café „Terrasse“ am Bellevue...

...ja, am Bellevue. Und dort trafen wir uns, und dort hat Tzara tatsächlich das Wort Dada im „Larousse“ gefunden. Und wir haben es angenommen. Warum? Weil das wirklich eine Deckung war der Prinzipien, dass Kunst etwas Direktes sei, etwas Volkstümliches und etwas Naives und somit näher als die Akademien und die hohen Schulen... Da gewannen wir zum ersten Mal die Überzeugung, dass Bauernkunst, primitive Kunst, dass die Bilder der Höhlenbewohner, welche halbnackt auf den Wänden so schöne Malereien gemacht haben, und zwar ohne Akademie und ohne jede Schulung, dass das die richtige Kunst ist, die Dada suchte.
 

Walter Mehring hat ja mal den Individualismus, den ganz heftigen, als die Gemeinsamkeit der Dadaisten definiert.

Ich muss Ihnen sagen, dass wir direkt den Individualismus bekämpft haben! Wir wollten eine Kunst, die allen gehört, und eine Sprache, die allen Völkern gehört. So ist wirklich eine Sprache entstanden, die menschlich war und geeignet für unsern Protest gegen die Barbarei des Weltkrieges! Das war unser Protest gegen das Unmenschliche der bisherigen Kultur, und wir haben geglaubt, dass der Künstler auch dafür ein bisschen Verantwortung tragen muss.
 

Sie sprachen davon, „dass man, um etwas Neues zu machen, das Alte zerstören muss“. Heißt das also, Sie wollten von Null beginnen, zu einem neuen Anfang zurück?

Wir hatten ja anfangs im Cabaret versucht, durch Vorträge, durch Bilder an den Wänden, durch Diskussionen, die Leute zu gewinnen. Es ging nicht. Die Leute aber ließen sich nicht erwärmen.. Da haben wir beschlossen, es gibt keinen anderen Weg, als zu kämpfen, zu zerstören, damit wir etwas Neues aufbauen können.
 

... und das war dann der Neubeginn – „Dada“ eben... Jetzt aber: Einige Häuser neben dem „Cabaret Voltaire“ der Dadaisten hat damals ja Lenin gewohnt. Stimmt es oder ist es ein Gerücht, dass er ein Gast des „Cabarets Voltaire“ war?

Er kam sehr oft hin... war... ich will sagen, er war nicht für abstrakte Kunst. Er hat gekämpft mit uns...
 

...also doch kein Gerücht...

... nachdem er seine Revolution nach Russland gebracht hatte, hat er es verstanden, gerade die Modernen; Lissitzky und Chagall und alle... und diese wie Tatlin usw... sie alle zu benützen in seinem politischen Kampf, um die Leute zu überzeugen für eine neue Kunst. Auch sie sollten seine Ideen unterstützen.
 

Wie kam aber Dada überhaupt nach Paris? Und sogar nach New York?

Ja, Tzara ist 1919 nach Paris gefahren und ist dort anfangs wie ein König empfangen worden. Er hat dort zusammen mit Hans Richter und Arp Abende mit Dada durchgeführt. Als ich nach Paris kam, habe ich gemerkt, dass Paris nicht bereit war, von andern Künstlern Impulse anzunehmen. Ich muss feststellen, dass Breton, Aragon und die ganze Gruppe um die Zeitschrift „Littérature“ uns anfänglich wunderbar empfangen hat – aber hinter unserem Rücken haben sie beschlossen, uns zu liquidieren!
 

...oi, das tönt erschreckend militant...

... sie konnten nicht akzeptieren, von uns etwas geschenkt zu bekommen. Und was geschah? Sie bauten mit unseren Gedanken von Dada eine Bewegung, die großartigen Klang bis heute hat: den Surrealismus! Ja, den Surrealismus. Der war ihre Waffe gegen uns und hat uns wirklich aus Paris herausgeschafft.


Das ist ja eine ungeheuerliche...

Ja, das ist.es!..

... Intrigengeschichte!:... dass also der Surrealismus als Waffe gegen Dada...

...gegen Dada entstand! Dabei hatten wir in Amerika Freunde, die schon in 1913 oder 14 einen Beginn ausgelegt hatten mit einer Ausstellung von abstrakter Kunst... Und da waren Man Ray und Picabia und Duchamp und alle jene Kräfte, die nachher den Namen „Dada“ übernommen haben, ohne dass wir etwas davon wussten! Sie schickten – noch bevor wir nach Paris kamen – den Picabia nach Zürich – um zu untersuchen, wer wir sind, was für eine Bande da am Werk ist. Und wir befreundeten uns sehr, und Picabia hat den Tzara dann nach Paris genommen und ihm die ganze Bewegung Dada übertragen wollen. Es funktionierte aber nicht. Und als ich sah, dass nichts zu machen ist in Paris – ich arbeitete, um zu existieren, mit meinem Bruder als Architekt in den „regions dévastées“, in den kriegszerstörten Gegenden – und als ich sah, dass mit der Kunst nichts zu machen ist dort, bin ich dann zum Schluss gekommen, nach Rumänien zurückzukehren.
 

Die Kunstgeschichte sagt ja, der Surrealismus habe den Dadaismus abgelöst, er sei aus ihm herausgewachsen als logische Folge... in einem historischen Prozess gewissermaßen. Wie haben Sie das erlebt?

Mit Trauer haben wir festgestellt, dass unsere Aktivität in der ganzen Welt eine tüchtige war, d. h. wir haben stark gewirkt, dass aber dennoch die Gegenkräfte gewachsen sind in allen Ländern. So mussten wir die richtige Revolution weiterführen in Prag und in Ungarn und in Rumänien so wie in Amerika, ohne dass wir daraus irgendeinen Vorzug als die Freude der Ideen hatten. Wir haben keine Bücher gedruckt und keine Ausstellungen mehr gemacht, nun aber festgestellt, dass die Idee heute noch lebt! Das ist unsere einzige Satisfaktion!
 

Sie würden also sagen: „Dada lebt“.

Dada lebt nicht nur, Dada blüht!