Geheimnissen auf der Spur

Spielfilmdebüt von Dorian Boguță in den rumänischen Kinos

In Dorian Boguțăs Film ist Irina Rădulescu als Ana zu sehen.

Dorian Boguțăs erster Spielfilm mit dem Titel „Urma“ (Die Spur), der beim Internationalen Festival des Frankophonen Films (FIFF) im belgischen Namur 2019 seine Welturaufführung erlebt hatte, feierte am vergangenen Freitag seine Premiere in den rumänischen Kinos. Der Debütfilm des bisher vor allem als Schauspieler („Maria, Regina României“, „Breaking News“, „Q.E.D.“) und als Produzent („Love Building“) bekannt gewordenen Dorian Boguță ist in jeder Hinsicht zu empfehlen: eine exzellente Regie, ein spannendes Drehbuch, verfasst vom Regisseur zusammen mit Loredana Novak, ein grandioser Ton (Marius Leftărache), ein faszinierendes Bild (Barbu Bălășoiu), das von einer mitunter doch allzu statischen Kamera kreiert wird, und ein Aufgebot von hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspielern, die nicht nur in Hauptrollen (Teodor Corban, Irina Rădulescu, Dragoș Bucur, Lucian Ifrim, Marin Grigore) exzellieren, sondern auch in Nebenrollen und Miniaturauftritten, man denke etwa an die im Gebäude des Rumänischen Rundfunks in der Bukarester General-Berthelot-Straße spielenden Szenen.

Der Film beginnt mit einer Ermittlung der Vermisstenabteilung der Bukarester Polizei, die im weiteren Verlauf des Films jedoch zu einer Ermittlung der Mordkommission wird, für den deutschen Fernsehzuschauer etwa eine Kombination von „Letzte Spur Berlin“ und einem beliebigen „Tatort“. Am Beginn von Dorian Boguțăs Film ist der berühmte Pianist Anton Ropot (Marin Grigore) verschwunden und der zuständige Kommissar Nicoară (Teodor Corban) ermittelt zunächst bei Ana (Irina Rădulescu), der Schwester des Vermissten, und bei ihrem Ehemann (Lucian Ifrim).

Die Arbeit des Kommissars besteht in der Anfangsphase des Films vor allem darin, die Kruste der heilen Welt aufzubrechen, die sich über dem darunter brodelnden Leben des Starpianisten gebildet hat. Durch Rückblenden werden konfliktuale Momente der Vergangenheit ins gegenwärtige Filmgeschehen hereingeholt. So sieht man etwa Anas Ehemann, von Beruf Arzt, in mehreren aufgeregten Gesprächen mit seinem Schwager Anton, in denen es um Antons Krebserkrankung und seine hereditäre Disposition geht. Oder man erfährt von dem Autounfall, bei dem Anton und Anas Eltern vor Jahren ums Leben gekommen sind. Oder man hört von Antons Obsession, die kinderlose Schwester endlich schwanger zu wissen. Oder man sieht Antons Freundin, die Apothekerin Eleonora (Mădălina Ghenea), dem Verdacht ausgesetzt, Anton mit lebensgefährlichen Medikamenten versorgt zu haben.

Der mit allen Wassern gewaschene Kommissar Nicoară geht den verschiedenen Spuren hauptsächlich in Bukarest nach, wobei die rumänische Hauptstadt realistisch und lebensnah ins Bild gesetzt wird, während sich sein Adjutant (Liviu Pintileasa) in den Kreis Argeș begibt, wo Anton zuletzt gesehen wurde und wo man ihn schließlich tot auffindet. In der schönen Landschaft des Kreises Argeș sind 12 Jahre zuvor auch Antons Eltern zu Tode gekommen, unweit der Stelle, wo nun Antons Leichnam entdeckt wird. Man sieht diese Stelle ganz zu Beginn des Films zu den Klängen wunderbarer klassischer Musik, und man sieht dieselbe Stelle am Ende des Filmes wieder, sinnierend betrachtet von Anas Ehemann. Das in der Anfangsszene zelebrierte Bild der vom Wind durchwehten Baumkronen erweist sich als ein Leitmotiv des Films: Das Unbewegte und Stille der Stämme tritt mit dem bewegten Flüstern der Blätter, die wie Espenlaub zittern, in einen lebendigen Kontrast, der an einer anderen Stelle auch durch einen Vogelschwarm evoziert wird, welcher vor der Kulisse einer ruhenden Baumlandschaft vorüberschwirrt.

Der Verdacht des Kommissars fällt bei seinen Ermittlungen zunächst auf einen guten Freund Antons, der von dessen Krebserkrankung weiß und der sich bei den diversen Befragungen mehrfach in Widersprüche verwickelt. Dann fällt der Mordverdacht in seiner ganzen Schwere auf Radu (Dragoș Bucur), den vormals besten Freund Antons. Anton hatte Radu drei Jahre zuvor die Freundin ausgespannt, woran auch ihre bis in die früheste Jugend zurückreichende Freundschaft zerbrach. Sonderbarerweise ist Anton, trotz dieses endgültigen Zerwürfnisses, vier Monate vor seinem Verschwinden auf Radu zugetreten mit der dringenden Bitte, bei seiner Schwester Ana für Nachwuchs zu sorgen: durch ihre Vergewaltigung!

Der Showdown des Films besteht dann in einem vormittäglichen Verhör in einer Bukarester Polizeidienststelle im Beisein des Kommissars und des Staatsanwalts. Ana und Radu, der jener von dem abstrusen Vergewaltigungsplan ihres Bruders berichtet hatte, um sie vor der drohenden Ausführung von Antons Vorhaben durch andere gedungene Täter zu warnen, werden miteinander konfrontiert und jeder für sich des Mordes, d. h. des Freundes- bzw. des Brudermordes, bezichtigt. Weil Ana aber alles abstreitet, wird Radu als Hauptverdächtiger vorübergehend in Haft genommen. Ana wird freilich am Nachmittag desselben Tages erneut vorgeladen, um dann ihre Aussage zu machen und endlich mit der Wahrheit herauszurücken. Statt dieses finalen Verhörs zeigt der Film in wunderbaren Landschaftsbildern die letzten Stunden Antons im Beisein seiner Schwester. Ana, die als Tierärztin ebenfalls Zugang zu Medikamenten hatte wie Antons Freundin Eleonora, hat ihren zuvor mit Medikamenten schwer sedierten Bruder im Auto in den Kreis Argeș mitgenommen, wo Anton in den Armen seiner Schwester an einem schönen Stausee unweit des Unfallortes ihrer Eltern sein Leben aushaucht und danach von Ana in der Natur zurück- und den wilden Tieren überlassen wird.

Das Schöne an Dorian Boguțăs Spielfilmdebüt ist, dass es sich nicht in einem simplen Kriminalfilm erschöpft, der einzelne Spuren so lange verfolgt, bis sich am Ende alles restlos aufklärt. Vielmehr hinterlässt der am Ende aufgeklärte Fall Spuren eines Lebens, das geheimnisvoll bleibt, sich letztlich der Erhellung entzieht und zugleich in menschliche Abgründe führt. Haben wir es hier mit einem als Brudermord getarnten Fall von Euthanasie zu tun? Spielen Angst oder gar Rache der Schwester eine Rolle? Haben verdrängte Schuldgefühle und vergangene Traumata (der Tod von Antons und Anas Eltern) ein Gewicht? Wie steht Antons psychopathologische Obsession mit dem mutmaßlichen Inzest der Geschwister in Verbindung? Und welche Rolle spielt Anas Ehemann, der alles zu wissen scheint und dennoch schweigt? Ein Film also, der Spuren nicht nur nachgeht, sondern sie allererst freilegt, in dem Spuren nicht nur aufs Ende zielen, sondern an den Anfang zurückführen, den Ursprung, von dem alles ausgeht!

Aus den Spuren dieser Filmelemente ließe sich etwa eine Geschichte rekonstruieren, die von Antons Obsession ausgeht, eine „Spur von seinen Erdentagen“ (Goethe) zu hinterlassen. Deswegen hat das Cottbuser Filmfestival im vergangenen November den dort gezeigten Film „Urma“ auch mit „Das Vermächtnis“ untertitelt. Antons Vermächtnis wäre ein Kind, das er aber wegen seiner hereditären Disposition mit seiner Schwester nicht zeugen darf. Deshalb appelliert er an das Verbrechen, das ihn, je nach Deutung, am Ende selbst ereilt.

Schön schließlich, dass diese mysteriöse und geheimnisvolle Dimension des Films ihr Widerlager findet in einer durchweg realistisch gezeichneten Welt. Die Alltagsszenen des Films wirken nie gestellt, obwohl sie allesamt kunstvoll inszeniert sind. So etwa das Gespräch des Kommissars mit einem Musikdirektor in einem Gang hinter dem „Mihail-Jora-Saal“ des Rumänischen Rundfunks! Oder auch die Szene, wo der Kommissar Antons ehemaligen Freund und Rivalen Radu aufsucht: ein Gabelstapler fährt vor und behindert zunächst den Kommissar beim Zugang zu den Lagerräumen von Radus Firma; dann steht der Gabelstapler dem Chef bei seinem überstürzten Aufbruch nach dem Gespräch mit dem Kommissar im Wege; schnell wird das Hindernis weggefahren und schon sieht man den Kommissar, wie er heimlich der Spur des im BMW davonpreschenden Radu folgt. Alltag wird so im Film sublimiert, Realität zum Werk stilisiert. Spuren des Lebens im Reiche der Kunst!