„Heimat trägt man mit sich selbst“

Online-(Vor)Lesung mit dem Dichter Hellmut Seiler

Hellmut Seiler

Auf Einladung des Departments für germanische Sprachen und Literaturen an der Fremdsprachenfakultät der Universität Bukarest fand am 17. April eine Lesung mit dem aus Siebenbürgen stammenden, mehrfach preisgekrönten Dichter Hellmut Seiler statt. Die Lesung lief im Rahmen der von Prof. Dr. habil. Raluca Rădulescu für die Studierenden im Masterlehrgang gehaltenen Vorlesung zur rumäniendeutschen Literatur. Das Konzept der Lesung fußte auf der Thematik der Grenzen und der Entgrenzung.

Hellmut Seiler machte den Einstieg mit einer Frage an die Teilnehmenden, was ihnen die Grenze bedeute und was für eine Wirklichkeit sie ihnen suggeriere. Er erläuterte im Folgenden, dass die Landesgrenze früher eine andere Akzeptanz und Akzeption hatte, da man sich nicht im geopolitischen Sinn darauf bezog, sondern auf die Grenzen eines größeren Gefängnisses, das mit traumatischen Erlebnissen in Verbindung stand. Reisen als Tourist waren in Rumänien nur als Kopfreise möglich oder im besten Fall alle zwei Jahre in die Bruderstaaten wie Ungarn oder die Tschechoslowakei. Seiler erinnerte an das Bewusstsein, von Grenzen umgeben zu sein, unfrei zu sein, was für seine Generation eine bestimmende Erfahrung darstellte.

Prof. Raluca Rădulescu, der für die kompetente Moderation gratuliert werden muss, weitete den Rahmen der Diskussion aus, indem sie auf Raumtheorien von Homi K. Bhabha und Michel Foucault einging, die aus ihrer Sicht für das Verständnis und die Interpretation der Exil-, Migrations- und rumäniendeutschen Literatur von Belang sind, da sie sich mit der Anpassung des Individuums im fremden Land auseinandersetzen. Seiler zitierte sein Gedicht „Die Straßenbahn“ aus den 90er Jahren, um seine Erfahrung vom Verlassen der Zelle, in der er gelebt hat, zu verdeutlichen und hob dabei hervor, dass nur derjenige die Freiheit zu schätzen weiß, der sie in seinem Land nicht gekannt hat.

Gedanken- und Beschränkungsfreiheit thematisiert er auch heute nach über 30 Jahren in seinen Gedichten. Er erinnert sich an die Zeit, in der seine Gespräche in der eigenen Wohnung abgehört wurden, an die beruflichen Engpässe, die er nach dem Einreichen der Ausreisepapiere zu bewältigen hatte, an das ihm verhängte Schreibverbot. Er wies darauf hin, dass trotz der Bespitzelungen, denen er ausgesetzt wurde, das Beziehungsgeflecht lebendiger war als jetzt, es wurde viel miteinander kommuniziert, denn mehr als nur ein zweistündiges TV-Programm gab es damals nicht, geschweige denn das Internet. „Das Schnapsgedicht“, das er in seinem ersten Gedichtband „Die Einsamkeit der Stühle“ veröffentlichte, spricht von Vertrauen und dem Gegenteil davon, denn man war vorsichtig und misstrauisch den Mitmenschen gegenüber. Ein besonderer Aspekt der Eingrenzung in den 80er Jahren, worauf Seiler mehrmals einging, war das alljährlich vorzunehmende Anmelden der Schreibmaschinen bei den damaligen örtlichen Polizeirevieren, weil man die Kontrolle haben wollte, falls politisch konnotierte Faltblätter aufgetaucht wären. Jeder, der eine Schreibmaschine besaß, musste nämlich jedes Jahr im Januar eine Schriftprobe abliefern, wobei der Text unwichtig war, wichtig war nur, alle Typenhebel zu verwenden, um den Text dem Besitzer der Schreibmaschine zuordnen zu können. Durch das politisch-motivierte Schreiben lief man Gefahr, das eigene Schreiben und die eigene Individualität zu verlieren. Das Gedicht „Die Schreibmaschine“ ist Hans Bergel gewidmet, da er als Gallionsfigur der leidenden Literatur zu bezeichnen ist, zumal er sich mit Gefängnissen und Freiheitseinschränkungen sehr gut auskennt.

Sehr eindrucksvoll waren Seilers Aussagen über den Umgang mit Freiheit im kommunistischen Rumänien, in dem man vor allem Angst hatte, über die man aber nicht schreiben konnte. Anhand des Gedichtes mit dem täuschenden Titel „Beim Zahnarzt“ erläuterte er näher, wie die damaligen Dichter es verstanden, durch stilistische Mittel wie Intertextualität oder Enjambement die Zensur auf falsche Fährten zu locken.

Auf Prof. Rădulescus Frage, wie er in Deutschland aufgenommen wurde, antwortete Seiler, dass er als deutscher Muttersprachler im rumänischen Vaterland in ein Land der Muttersprache kam, die man nicht versteht, weil dort schneller geredet und anders betont wird. Man ist fremd in der neuen Heimat, aber mit der Zeit nimmt die Fremdheit ab und erreicht den Grad der Neutralität, die man für Heimat hält. Heimat ist nicht ersetzbar, hebt Seiler hervor, man hat sie im Kopf, man trägt sie mit sich selbst, man ist irgendwo verortet, man identifiziert sich aber nicht mit der Landschaft, denn die ist provisorisch. Heimat braucht man nicht, wenn man in sich selber ruht. Man ist keine Pflanze, dass man Wurzeln bräuchte. Auf die Frage, ob er sich als deutscher oder rumäniendeutscher Autor versteht, antwortete Seiler, dass er bereits als württembergisch-siebenbürgischer Autor etikettiert wurde, von Etiketten außer auf Weinflaschen aber nicht viel hält.

Welches sei sein Verhältnis zu den Autoren der Aktionsgruppe Banat, wurde Seiler weiter gefragt, wo-rauf er antwortete, dass einige, wie Johann Lippet, Richard Wagner, William Totok, Anton Sterbling immer noch aktiv sind und dass vor allem Rolf Bossert ein guter Freund von allen war. Ihm zu Ehren hat Seiler einen Freundeskreis mit 60 Mitgliedern und einen Gedächtnispreis ins Leben gerufen, der am 23. April, ausgerechnet am Welttag des Buches, zum zweiten Mal bekanntgegeben werden soll. Es wurden seinerzeit Kontakte zwischen den siebenbürgischen und den Banater Dichtern gepflegt, indem Lesungen in Hermannstadt bzw. Temeswar organisiert wurden, oder aber durch postalische Korrespondenz. Postmoderne rumänische Dichter wie Traian T. Coşovei, Mircea Cărtărescu, Ion Bogdan Lefter, Elena Ştefoi, Mariana Marin, Virgil Mazilescu, Denisa Comănescu u. a. wurden von den rumäniendeutschen Autoren der gleichen Generation stark beeinflusst, was vor allem der von Peter Motzan herausgegebenen Anthologie deutscher Dichter aus Rumänien „Starker bis mäßiger Wind“ („Vânt potrivit până la tare”) zu verdanken war. Seiler berichtete von seinem großangelegten Übersetzungsprojekt, einer Anthologie der Gegenwartslyrik, in der Texte von 36 rumänischen Autoren, u.a. von Ana Blandiana, Aurel Pantea, Mircea Cărtărescu, Dinu Flamand, Ioan S. Pop, Grete Tartler, Rodica Draghincescu, Emil Hurezeanu, Nora Iuga, Robert Şerban, Matei Vişniec ins Deutsche übertragen werden. Es wird nach Dieter Schlesaks Anthologie „Gefährliche Serpentinen“, die 114 rumänische Dichter mit insgesamt 305 Gedichten vorstellt, die dritte Anthologie dieser Art sein. Die etwa 40 Übersetzer der 1998 erschienenen Anthologie von Schlesak sind Sachsen und Schwaben aus Rumänien, Dichter, Prosaschriftsteller oder Kritiker wie Rolf-Frieder Marmont, Ernest Wichner, Gerhardt Csejka, Peter Motzan, Rolf Bossert, Anemone Latzina, Franz Hodjak, Werner Söllner, Oskar Pastior, Else Kornis, Alfred Kittner, Georg Scherg, Horst Fassel, Wolf von Aichelburg, Arnold Hauser, Georg Aescht, Johann Lippet, William Totok und Dieter Schlesak. Seiler ist der einzige Übersetzer seiner eigenen Anthologie „Schwebebrücken aus Papier“, die 400 Seiten umfassen und in diesem Jahr in einem Berliner Verlag erscheinen soll. Auf diese Weise erhofft sich Seiler eine erhöhte Aufmerksamkeit des deutschen Lesepublikums für die zeitgenössischen rumänischen Schriftstelle-rinnen und Schriftsteller.

Die rumäniendeutsche Literatur aus Rumänien ist eine feste Größe, anerkannt von Literaturkritikern, behauptet Seiler. Die Herkunft der Autoren ist eine Gemeinsamkeit, die aber an Wert verliert. Die ausgewanderten Autoren sind vom Leben in zwei Systemen doppelt sensibilisiert. Sie erfüllen eine Vermittlerrolle zwischen der deutschen und der rumänischen Literatur. Seiler selbst gesteht, dass er das, was er erlebt, stets verarbeitet und verarbeiten wird.
Im anschließenden sehr lebhaften Gespräch wurde auch auf den 2021 im Dortmunder Verlag „edition offenes feld“ erschienenen Gedichtband „Gnomen. Gedankensplitter und lyrische Launen“ Bezug genommen, in dem Autobiografisches, Zeitgenössisches, Politisches, Linguistisches, Aphoristisches und viel mehr, wie immer, raffiniert, inspiriert und „dekolletiert“ verarbeitet wird.

Ein Beispiel für die Wortspiele, beruhend auf grafisch-phonetischen Wechselspielen, wurde von der Verfasserin dieses Berichts daraus zitiert:

Bärenbilanz
Eine Lichtung ist ihr
Entbeerungsreich.

Bärenstark
Jäger sind häufig Gefühlsmenschen:
Sie entbären den Wald.

Wortspiele beruhend auf derselben Wortbildungsnachsilbe, in diesem Fall „-enz“, lassen ein Gedicht voller tiefgründiger, ironischer Anspielungen wie „Bilderbuchkarriere in zwölf Schritten“ entstehen:

1. Abteilungs- oder Gesamtlehrerkonferenz
2. Deutliche Redefrequenz, fehlende Kohärenz
3. Gestiegene Emergenz
4. Größere Konferenzen-Frequenz
5. Inexistente Stringenz wegen fehlender Kompetenz
6. Gestiegene Medienpräsenz
7. Deutliche Influenz bei abwesender geistiger Potenz
8. Interessen-Interferenz
9. Hohe Herzfrequenz, vorgetäuschte Demenz
10. Öffentliche Vehemenz
11. Juristische Evidenz, drohende Delinquenz
12. Konsequenz: politische Totalabstinenz

Wir wünschen Hellmut Seiler alles Gute zum Geburtstag, den er am 19. April feierte, und freuen uns auf einen baldigen Live-Besuch an der Bukarester Germanistik. Die pandemiebedingte Online-(Vor)Lesung erwies sich trotzdem als eine große Bereicherung, denn gerade in diesen Zeiten ist der Begriff der Freiheit aktueller denn je.