Ihre Windrose hat Wurzeln im Südosten

Helga Ungar zu Ilse Hehns neuem Buch „Diese Tage ohne Datum“

Ilse Hehn, „Diese Tage ohne Datum“, Prosa. Mit bildnerischen Arbeiten der Autorin. Pop Verlag Ludwigsburg 2022, 320 Seiten. ISBN 978-3-86356-353-0

„Ihre Windrose hat Wurzeln im Südosten“, notiert der Banater Schriftsteller Franz Heinz im Covertext des Buches. llse Hehn, deutsche Schriftstellerin, bildende Künstlerin und Kunstdozentin, geboren im Banat, lebte viele Jahre unter der kommunistischen Diktatur in Rumänien, wo sie nach dem Gymnasium und dem Studium für Kunst und Kunstgeschichte in Temeswar als Gymnasiallehrerin in Mediasch arbeitete und mehrere Lyrikbände und zwei Kinderbücher publizierte. Durch ihren Kontakt mit der europäischen Autorenvereinigung „Die Kogge“ geriet sie ins Fadenkreuz der Securitate. 1992 übersiedelte sie in die Bundesrepublik, wo sie in Ulm lebt und arbeitet. lhre künstlerische Doppelbegabung realisiert Ilse Hehn in vielen Publikationen: bisher 21 Bücher (Lyrik und Prosa) und eine Fülle von Anthologie- oder Zeitschriftenbeiträgen, dazu sieben unikale Kunstbücher.

Der neueste Band, „Diese Tage ohne Datum“, schließt an den Titel „Roms Flair in flagranti“ (2020) an, doch ist er thematisch wie formal umfassender und vielgestaltiger. ln diesem Buch hält die Autorin ihre Erfahrungen auf Reisen in verschiedenste Länder, die sie nach 1989 besuchte, in einer Fülle sprachlicher und bildnerischer Formen fest. Nach dem Geleitwort von Ulrich Steenberg Ilse Hehns Auftakt: „Es war Rumänien. Die Traumvision des Kindes erscheint als Ursprung der Reiselust. Auf seine Frage, ob das Schwarze Meer schwarz sei, antwortet die Mutter: ‚Im Sommer wirst du es sehen, sein Wasser ist dann so hell.‘ Ich hing meine Bilder an diesem Traum von Helle auf. Formulierte Sätze. Modellierte Sehnsucht. Ersann heraufziehendes Licht. Und Zeit...schielte Richtung Westen. Sie öffnete sich, als 1989 das Eis schmolz und die Donau wieder zu fließen begann. Weite kam zum Vorschein... Und Merkur, der Gott der Reisenden, entführte mich, tief in mir der beglückende, schmerzende Dolch Fernweh.“ (S. 9)

Weitgespannt ist der Kreis der Orte, Inseln, Städte und Länder, die in diesem Kaleidoskop aus vielfarbigem Licht und Schatten erscheinen. Räume, Landschaften, Inseln, Städte. Begegnungen mit Menschen und Tieren, mit Natur, Kunst und Kulturgeschichte zeugen von aufmerksamer Wahrnehmung und tiefer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Der Horizont reicht vom Polarkreis – Lappland, Norwegen – über Frankreich, Ägypten, Rumänien, Capri, Sizilien, Samos, Amsterdam, Florenz, Rom, den Bodensee bis nach Venedig.

Die Kapitel über die Reisen sind von unterschiedlicher Länge und Form. Es gibt ausführliche Berichte, wie in Lappland die Schilderung der abenteuerlichen Fahrt der Autorin mit dem von ihr selbst gesteuerten Hundeschlitten, der von Huskys im Winter über die Eisflächen gezogen wird. Es faszinieren das weite Land, die unberührte Natur, die einfachen Holzhütten als Herberge. (S. l7-34). Nach Umfang und Sprachstil im Gegensatz dazu stehen kurze Notate.

Ein Beispiel der Bodensee; „Insel Mainau bietet ein Stimmungsbild: Sinneseindrücke in heller Tönung, synästhetisch, knappe Deutungen: Die Heiterkeit der Blumen so gegenwärtig, dass dieser Garten Menschen kaum nötig hätte. Farben brennen mit hörbarer Flamme, in ihnen das Getöse des Sommers… die Samtheit der Rosenblätter, der leicht faulige Geruch ihres Verwelkens (der gleiche Geschmack einer überreifen Frucht) als lnbegriff von Sterben. Wir atmen ihren schweren Duft.“ (S.276).    
        
Immer wieder gibt es charakteristische Landschaftsporträts, so im Kapitel Frankreich bei der Schilderung des Meeres um Mont Saint-Michel und der bretonischen Küste, Dol-de-Bretagne bis zum „Strand von Cancale“ (S. 42 - 47), detail- und kontrastreiche Bilder vom Spiel der Gezeiten: Sand, Wasser, Himmel: „Barfuß laufe ich über eine weite Fläche von feinem, nassem Sand, sie fühlt sich an wie Haut, hier und da ein Wasserauge, Priele, die den Himmel spiegeln. Farben lösen sich auf, Sand und Himmel verschmelzen zu einer weichen Stille. Fern die Hektik der schwülen, engen Straße, die zur Spitze von Mont St.-Michel sich hoch drängt. In dem weit ausholenden Bogen der Landschaft die Spur der Möwen im Sand, vergänglich. Zärtlich beieinander Dimensionen: das Große, das Kleine.“ (S. 43). Da spiegelt sich das Glück des erfüllten Augenblicks. ln dem Kapitel über Schottland zeigt sich die Verbindung einer regen- und sturmreichen Landschaft aus Felsen, Moor und Heide mit den oft dunklen, bizarren Wechselfällen der Geschichte, wie die Reminiszenz an das mörderische Gemetzel von rebellischen Clans im Jahre 1629: „GlenCoe“ (S. 144).

Die sensible Wahrnehmung der Malerin und Fotografin sowie die Reflexion und Sprachkunst der Schriftstellerin verbinden und verstärken sich zur Vergegenwärtigung des Erlebten. Es geht dabei um Fülle und Tiefe, das Helle und Dunkle der Wirklichkeit, auch die naturgegebenen, historischen oder sozialen Verwerfungen. Ein drastisches Beispiel, wie die realen Eindrücke der Reisenden von den Klischees der Tourismuswerbung abweichen, bietet das Florenz-Kapitel. ln „Marmor/Florenz I“ wirkt die steinerne Pracht ambivalent: „Löwenköpfig die Stadt, ein Sarg aus pietra dura. Liebende aus echtem / Marmor, ohne die Gnade der Wärme.../ an den Brüchen spielt das Licht mit / verirrten Hautflüglern.“ (S.151).

ln „Es ist nicht der Tod/Florenz II“ erscheint die Stadt als Jahrmarkt mit den gespenstischen Zeugen verrotteter Glorie in einer verdorbenen Natur: „Um uns verkrusteter Glanz Domfassade, daneben Giottos / Campanile, angepflockt in der Hitze../... unweit / lümmelt Ponte Vecchio, auf Sommer poliert, darunter / Arno im Schlamm, das Gesicht nach unten“. (S. 152). Gesteigert wird dieses triste Bild noch in „Jenseits des Arno / Florenz III“: „Oltrarno / Gegen 15 Uhr riechst du die / Hitze des Tages. Der Arno kippt / seine Spucke über den Rand, fasst Fuß am Ufer, hier / schmeckt es nach Katzenpisse, glühender / Luft...“ (S.154). Die Schönheit von Natur und Kunst scheint überall dem Verfall ausgesetzt: „Abend - ein grauer Baum lehnt / an Stille, in Kirchen zerkrümeln gottäugige Bilder, irgend- / jemand erinnert, klebt zinksilberne Blätter in seinen Dante.“ (S. 155).

Die Dialektik von Leben und Tod, Vergänglichkeit und Unsterblichkeit wird für die Autorin besonders fühlbar in Rom. Sie erinnert sich an den inzwischen an Krebs verstorbenen Freund, mit dem sie vormals in Rom gewesen war und auch viele der hier geschilderten Reisen zusammen erlebt hatte: „Ich trage in mir den Tag, als wir die Ruinen der Caracalla-Thermen besuchten. Wir durchstreiften dieses römische Sensorium… wir, so klein, bei frisch fallendem Schnee ... Ich trage in mir vergänglich Helles auf dunklem Stein, lose Flocken auf Abulie der Geschichte.“ (S. 279). In dem Rom-Kapitel besucht sie, nunmehr allein, den Tempel des Antonius und der Faustina, der gerade restauriert wird; sie legt, „den Säulen“ ihre „Finger in die Wunden“ und zieht den Schluss: „Er lebt also – auch der Marmor lebt! Was aus ihm herausbirst, ist Ewigkeit.“ Und was zunächst paradox wirkt, klingt letztlich versöhnt im Hinblick auf das universelle Schicksal alles Geschaffenen: „Die verdammte Ewigkeit, die er abstößt. Auch er hat ein Recht auf den Tod.“ (S. 280).        
    
Eine Fülle an kunst- und kulturhistorischem Wissen wird dank der profunden Bildung der Autorin ausgebreitet, nicht ohne kritische Seitenblicke, wie etwa bei der Schilderung von Apollo, der nach dem Mythos die von ihm begehrte, aber nicht gefügige Nymphe Daphne verfolgt hatte. Sie war der Gewalt des vielgerühmten Gottes nur durch die Verwandlung in einen Lorbeerbaum durch die Göttin Gaia entkommen. Die Autorin entzaubert das gängige Bild des strahlenden Helden: „Apoll mit seinem hochnäsigen Gehabe, er ist der Schönste, der Beste, der Tollste, ein Spitzensportler… Bei genauerer Betrachtung haben wir es jedoch mit einem Machoideal zu tun.“ (S. 254).

Auch sozialkritische Blicke auf das heutige Leben in den kulturgeschichtlich großartigen Ländern rund um das Mittelmeer fehlen nicht. Bei der Fahrt von Kairo noch Abu Simbel tritt neben den historischen Denkmälern auch das alltägliche Leben der heutigen Bevölkerung ins Blickfeld. „Junge Frauen in moderner Kleidung mit Gesichtern wie junge Königinnen.../ In einer Seitenstraße bietet eine alte Frau Zwiebeln an, ihr gummiartiges Gesicht voller tiefer Falten. Daneben der Mann, nach Beduinenart auf den gekrümmten Knien hockend. Sie sind Nubier, deren Heimat unter dem gestauten Fluss verschwand, als man den Nil ruhigstellte.“ (S. 180). Über das ganze Werk sind in den laufenden Text viele prägnant formulierte Gedichte eingefügt, auch zahlreiche Zeugnisse der Künstlerin: farbintensive oder pastelltonige Bilder, Collagen, oft übermalte oder in zierlicher Schrift überschriebene Fotografien, Monotypien: eine einzigartige Mixtur von Text und Bild. 

„Diese Tage ohne Datum“ ist ein vielgestaltiges Panorama auf Länder und Landschaften, auf ihre Bewohner, auf Natur, Kunst und Kultur, auf Licht und Schatten. Es ist ein faszinierendes Gesamtkunstwerk. 

Die Autorin resümiert in ihrem Nachwort: „Um mich Bilder, Wörter, ...Wörter und Bilder, Geschriebenes und Gestaltetes in enger Beziehung miteinander“. Ihre Absicht war, „Orte und deren geografische wie auch erlebte Topografie festzuhalten, das Erschaute und Erfühlte als Steigerung des Daseins zu empfinden“. (S. 307). Den Spuren dieses außergewöhnlichen Reise-Buchs lesend und betrachtend zu folgen, verspricht jedenfalls vielfältigen Gewinn.