Im Bann der Medizin

Bruchstück aus einem Prosamanuskript

Die gelebte medizinische Seinsbestimmung von nahen Familienangehörigen verfehlte ihre Wirkung auf mein kindhaftes Empfinden, auf meine jugendliche Erfahrungswelt nicht. Oft sah ich, dass Schmerzen und sonstige Übelstände von der fachkundigen Ärztin, vom vielerprobten Arzt sogleich erkannt und gedeutet wurden. Sie konnten die Ursachen der Krankheiten auch ohne viele technische Behelfe benennen und ließen sich ihre Diagnosen dann allerdings vom Laboratorium bestätigen oder berichtigen. Sie prognostizierten, wie körperliche Beschwerden zunahmen oder abklangen, und hatten meist auch eine deutliche Vorstellung darüber, wie der Notlage beizukommen war.

Worüber sie an Wissen verfügten und zum Nutzen anderer anwenden konnten, hatte in der Tartlerschen Klinik einen gegenständlichen Rahmen, ein Fundament und Mauergefüge, das sich nicht als feinstofflicher Gesundheitstempel darbot, als ätherisches Idealgebilde, sondern als eine Stätte strenger Gesetzmäßigkeiten und gelegentlich auch härterer Auseinandersetzungen. Ordnung musste sein, mit Frühaufstehen, pünktlich abgehaltener Visite und geregeltem Sprechstundenprogramm, mit akkurater Verwaltung und zuverlässig eingehaltener Nachtwache.
Freilich sah ich auch: Selbst Ärzte konnten ermüden, bis sie sich wieder aufrafften zu ihrem schweren Dienst. Denn die helferische Bestrebung, grundsätzlich verfochten und durch regen Einsatz erhärtet, stieß oft an ihre Grenzen.
Es wurde nicht immer in eindeutigen, krass wirkenden Worten ausgesprochen, was zu sagen war, manches wurde nur vorsichtig angedeutet oder gar verschwiegen. Die deutliche Sprache hätte ergeben: Der Befund ist bedenklich … bei diesem Krankheitsstadium lässt sich nichts mehr machen … keine Chance … unheilbar …

Aus der Bedrängnis gab es vielleicht doch manchen Ausweg: Die Patienten wurden an andere Kliniken verwiesen, an bedeutende Spitäler in Klausenburg, in Neumarkt am Mieresch, in Bukarest. In seltenen Fällen wurden mehrere Ärzte zu einer Beratung einberufen, zu einem Consilium. Ein Zauberwort war das, es beraumte eine Zusammenkunft an, die durch eine ganze Anzahl telefonischer Vereinbarungen zustandekam, das Wort hatte einen Klang mit geheimnisvollem Widerhall – Consilium.

Mir war es also gegeben, ein wenig Einblick zu gewinnen in Höhen und Tiefen des Arztberufs. Die Kenntnis von den Beschwerlichkeiten und Genugtuungen des Metiers hätten mich vielleicht dazu veranlassen können, in diesem Wirkungsbereich tätig zu sein. Doch muss ich gestehen: In mir war eigentlich nie der Wunsch aufgekommen, je als Arzt oder als Mediziner auf bescheidenerer Ebene zu arbeiten. Es fehlte mir wohl zu sehr die erforderliche praktische Natur, mit all der Rigorosität helferischen Beistands.

Meine Lektüre und das Gespräch mit kundigen Leuten waren aber mitunter darauf ausgerichtet, in der Studienzeit (es gab sächsische Medizinstudenten in Klausenburg) und später. Unwillkürlich wurde ich damit zu einem reichhaltigen Themenbereich der Literatur hingeführt. Und kam dann wieder davon ab, denn das noch so vorsichtige Berichten von heilkünstlerischen Verläufen war an Kompetenz gebunden, die mir letzten Endes abging. Lediglich bescheidene Versuche der Darstellung ärztlichen Milieus brachte ich zuwege, das heißt, mit allen Merkmalen des Provisorischen behaftete Skizzen und Notate.

Dennoch hatte ich schon in den Jahren meiner ersten Berufstätigkeit (als Lehrer, als Bibliothekar) den Wunsch, einen Roman medizinisch-klinischer Thematik zu schreiben, und ich glaubte auch, über genügend Tatbereitschaft für dies Vorhaben zu verfügen. Ich war aber noch zu sehr ein säumig Suchender, vage bemüht, in der Heilkunde geeignete Stoffe aufzuspüren und Beziehungen zwischen dem Sanitätspersonal aller Ränge zu erkunden oder auch nur, solche mir nach plausiblen Vorstellungen zurechtzulegen.

Die Einblicke ins Fachgebiet waren lange Zeit hindurch so unbestimmt, dass ich, abgezogen von konkreten Umständen, von realen Örtlichkeiten in dieser Ungenauigkeit gar einen Vorzug sah. Ich überlegte, ob es nicht am besten sei, einen „Doktor Namenlos“, einen anonymen Helfer, einen durch mythische Räume schreitenden Arzt in den Mittelpunkt des Geschehens zu stellen. Und fand dann doch zu einer unseren Gegebenheiten näheren Ansicht zurück. „Bogner“ sollte der Namenlose heißen, und dabei ist es geblieben. Das war ein zu Siebenbürgen passender Name, reichlich bezeugt von älteren Schriften, zudem von angenehmer Resonanz.

Zu überlegen hatte ich weiterhin: Welche Spezialisierung sollte Doktor Bogner vertreten? Hatte er ein Internist zu sein? Oder ein vielgeforderter Dispensar-Arzt, ein Kassenarzt, zuständig für einen ausgedehnten Stadtbezirk?  Möglicher-weise war ein Neurologe, ein Psychiater das richtige, ja, das war´s wohl. So begann ich, mich dem schier unermesslichen Bereich der seelischen Vorgänge und Defizite zuzuwenden.
Gefesselt war ich bei-spielsweise von der Festigung beziehungsweise von der Verminderung des Gedächtnisses, vom Vergessen und seinen beängstigenden Folgen, auch von dem durch technische Mittel erzielbaren Gedächtnisschwund (solches führte ins Gelände von „Gehirnwäsche“). 

Die zeitweilige Festlegung auf die Sparte „Gedächtnis und Erinnerung“ ließe sich anhand zahlreicher Blätter veranschaulichen, denen allerdings etwas Rudimentäres anhaftet. Noch kann ich nicht recht abschätzen, ob dergleichen Aufzeichnungen in aufpolierter Form in den Ablauf einer neueren Schilderung passen. Die Überfülle dessen, was vom Hauptstrom des Erzählvorhabens aufgenommen werden muss, wird mich wohl nötigen, auf Textproben aus dem Prosaentwurf zu verzichten. Mag sein, dass sie sich zu anderer Gelegenheit auswerten lassen oder – wahrscheinlicher – dass sie ohne Widerhall dort verschwinden, wohin sie gehören: in der Versenkung.
Die Krebsbehandlung durch Strahlen, durch operative Eingriffe und mit Hilfe von Medikamenten war mir im Tartlerschen Sanatorium zugänglich geworden, und ich hätte mich im Gedanken an den Protagonisten der Romanhandlung von Anfang an für diesen ärztlichen Bereich entscheiden können. Ich zögerte, lag es mir doch denkbar fern, das Ärztinnen-Schicksal der Mutter und den Lebensgang ihres Vaters, dieser gewichtigen medizinischen Autorität, literarisch zu bearbeiten. Die allzu geringe räumliche und zeitliche Distanz hielten mich davon ab, solches ernstlich zu erwägen. Nach und nach erst dachte ich daran, einiges aus der Praxis dieser Klinik zu schöpfen.

Von Familienangehörigen und mir wohlgesinnten Literaten wurde ich gelegentlich dazu angestoßen, mich mit Gedicht oder Erzählung der Öffentlichkeit zu stellen, schon um Irrgänge, um eventuelle Verschrobenheiten der allzu isolierten Schreibtischarbeit als solche zu erkennen und nach Möglichkeit zu berichtigen. Schließlich gebe es die Literaturkreise hier und dort, diese Foren schriftstellerischer Diskussion und Beurteilung. Ich sei nun bald dreißig und dümpele in seichten Gewässern so für mich hin, als wolle ich mich vor dem Lesepublikum verbergen, anstatt aus dem „stillen Kämmerlein“ hinauszutreten und zu zeigen, es sei mit mir als Nachwuchskraft zu rechnen. Unumgänglich sei – sagte man mir –, mich der Kritik von Fachleuten zu stellen und Ratschläge von Freunden der Dichtung anzuhören.
Um solche Erwartungen nicht ganz zu enttäuschen, formte ich ein Kapitel aus dem Romanprojekt zurecht. Es hatte eine gewisse Geschlossenheit und Abrundung aufzuweisen, um bei Lesungen oder beim Vorabdruck in der Presse nicht allzu bruchstückhaft zu wirken.

Ein Doktor Bogner wurde darin mit anderen Personen aus medizinischen Diensten in eine mysteriös wirkende Lage gebracht. Sie sahen sich wider jedes Erwarten in eine Wohnung eingeschlossen, die sie bloß zu kurzem Aufenthalt aufgesucht hatten. Dadurch gab es für sie reichlich Zeit, um über Unbedachtheiten und Vergehen nachzusinnen, über Schiebungen mit Medikamenten zur Krebsbehandlung.

Das „Schlüsselpunkt“ benannte Prosafragment wurde im Hermannstädter Literaturkreis vorgestellt und erörtert. Die Schreiberrunde und ihre Hörerschaft erschienen mir damals als Versammlung von Leuten, die intime Befindlichkeiten zur Schau stellten, was mir im Grunde wenig lag; aber ich fand mich in diesem auf sprachlichen Ausdruck, auf künstlerische Gestaltung eingestellten Zirkel doch einigermaßen zurecht…