Intensität und tiefe Leidenschaft

Die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle beim Enescu-Festival

Nicht enden wollender Beifall für die Berliner Philharmoniker und ihren Dirigenten Sir Simon Rattle. Das gefeierte Ensemble hat versprochen wiederzukommen, nicht so bald, aber immerhin 2019.
Foto: festivalenescu/Andrei Gîndac

Im Programm des diesjährigen Internationalen Musikfestival „George Enescu“ sind neben anderen Weltklasseorchestern auch mehrere deutsche Spitzenorchester vertreten: die Berliner Philharmoniker, die Staatskapelle Dresden, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, das Konzerthausorchester Berlin und das Bayerische Staatsorchester. Der Auftakt des deutschen Orchesterdefilees bildete zugleich auch schon dessen Höhepunkt. Im Bukarester Großen Palastsaal waren in der ersten Festivalwoche die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle zu Gast. Das seit 1882 bestehende Sinfonieorchester ist von dem wichtigen britischen Klassik-Magazin „Gramophone“ vor Kurzem wieder einmal zur Crème de la Crème der weltbesten Orchester gewählt und gezählt worden. Nicht von ungefähr wurde der Auftritt der Berliner Philharmoniker beim Festival „George Enescu“ auch durch eine spezielle Pressekonferenz unmittelbar vor dem Konzert besonders gewürdigt.

Bei dieser Pressekonferenz saß neben dem Chefdirigenten Sir Simon Rattle, neben dem Pressechef und neben dem Manager der Berliner Philharmoniker auch ein Ensemblemitglied mit auf dem Podium: der aus Rumänien gebürtige Geiger Laurenţiu Dincă, der seit 32 Jahren in diesem deutschen Weltklasseorchester mitspielt, die letzten 20 Jahre sogar auf einer Guarneri-Violine, die sich im Besitz des Vereins der „Freunde der Berliner Philharmoniker“ befindet. Während die Kommunikationschefin des Festivals Oana Marinescu auf der Pressekonferenz vom ersten Besuch überhaupt der Berliner Philharmoniker in Bukarest sprach, war deren Chefdirigent Sir Simon Rattle etwas genauer. Seine ersten Worte waren, „we are happy to be here again“, wobei er auf ein Gastspiel des von den Nationalsozialisten politisierten deutschen Vorzeigeorchesters im Oktober 1943 in der rumänischen Hauptstadt anspielte.

Das kurze Pressegespräch drehte sich um die Musik George Enescus, um berühmte rumänische Dirigenten wie Constantin Silvestri und Sergiu Celibidache, der die Berliner Philharmoniker in den Jahren 1945 bis 1952 als Interimsdirektor leitete, um das Zustandekommen des Bukarester Gastspiels, das dem Verhandlungsgeschick und der Ausdauer des Organisationschefs des Enescu-Festivals, Mihai Constantinescu, zu verdanken sei, um erhoffte künftige Besuche des Orchesters in Rumänien und vieles mehr. Naturgemäß stand dabei vor allem die Person des Chefdirigenten im Vordergrund, wobei Sir Simon Rattle seine Aufgabe vornehmlich über den Dienst an der Musik definierte: durch Hingabe, Intensität und tiefe Leidenschaft Begeisterung bei den Musikern und beim Publikum zu entfachen.

Noch vor dem Beginn des eigentlichen Konzertes, zu dem Unmengen von Zuhörern in den übervollen Großen Palastsaal geströmt waren, ergriff der Künstlerische Direktor des Enescu-Festivals, Ioan Holender, das Wort, um sich nach langjähriger Leitungstätigkeit vom Festivalpublikum zu verabschieden. Sein Nachfolger im Amt sei offiziell zwar noch nicht bestimmt, sicher sei aber, dass Zubin Mehta, der beim diesjährigen Festival zwei Konzerte mit dem Israel Philharmonic Orchestra dirigiert hatte, bei der nächsten Folge des Festivals im Jahre 2017 als Ehrenpräsident fungieren werde. Ein letztes mahnendes Wort richtete der scheidende Künstlerische Leiter des Enescu-Festivals an die Verantwortlichen von Stadt und Land: Trotz mannigfacher Versprechungen, den Bau eines große Zuhörermengen fassenden und hohen akustischen Ansprüchen genügenden Konzertsaales in Bukarest voranzutreiben, gebe es auch nach so vielen Jahren nicht einmal ein entsprechendes Projekt!

Nun war die Bühne frei für den Auftritt der Berliner Philharmoniker, die im ersten Teil des Konzertes allerdings nur in Streicherbesetzung musizierten. Auf dem Programm stand Benjamin Brittens Opus 10, seine „Variationen über ein Thema von Frank Bridge“ für Streichorchester, mit denen der vierundzwanzigjährige englische Komponist seinem Lehrer und Mentor Frank Bridge seine Reverenz erwies, „with affection and admiration“, wie es in der Widmungsadresse heißt. Das Stück war ein Auftragswerk der Salzburger Festspiele, das dort am 27. August 1937 seine Konzertpremiere erlebte.
Schon in den ersten Takten des Werkes konnte man den satten Streicherklang des deutschen Spitzenorchesters genießen, das Einheitliche und Abgerundete des akustischen Gesamteindrucks, die feine Abstimmung der einzelnen Streichergruppen, die Begeisterung und Hingabe jedes einzelnen Ensemblemitglieds.

Die Diversität und Vielfalt des Brittenschen Werkes gestattete es den Berliner Streichern ihrerseits, die Mannigfaltigkeit und Differenziertheit ihrer Klangmöglichkeiten zu entfalten, denn die einzelnen Brittenschen Variationen sind nach dem Muster verschiedener musikalischer Formen gestaltet: Adagio, Marsch, Romanze, Italienische Arie, Bourrée, Wiener Walzer, Moto perpetuo, Trauermarsch, Gesang, Schlussfuge. Die Berliner Philharmoniker verliehen jeder dieser Formen ihr eigenes klangliches und expressives Gepräge, wobei sie auch noch den Charakterisierungen huldigten, die Britten seinem Werk – zwar nicht im Druck, aber in seinem Frank Bridge verehrten Widmungsexemplar – beigegeben hatte. Jede musikalische Form in Brittens „Variationen über ein Thema von Frank Bridge“ entspricht einer Eigenheit, Gesinnung oder Haltung, die der Komponist sich selbst zurechnete, die man aber auch getrost den Berliner Philharmonikern zusprechen kann: Integrität, Energie, Charme, Humor, Tradition, Enthusiasmus, Vitalität, Mitgefühl, Andacht, meisterliches Können und Hingabe.

Nach der Pause war dann der volle Orchesterapparat der Berliner Philharmoniker beherrschend auf der Bühne des Großen Palastsaales präsent. Auch hierbei stellten die Gäste aus Berlin einen Rekord auf: Auf 11 Tonnen belief sich das Gewicht der gesamten Ausrüstung des deutschen Spitzenensembles, schwerer wog bisher keine Orchestergerätschaft in der gesamten Geschichte des Enescu-Festivals! Selbstverständlich war der Komponist des zweiten Werkes, das an diesem Abend gegeben wurde, Dmitri Schostakowitsch, daran nicht ganz unbeteiligt, denn seine Vierte Sinfonie in c-Moll (op. 43) erfordert einen riesigen Orchesterapparat, der auf der Bühne des Bukarester Großen Palastsaales gerade noch Platz fand. Das 1936 vollendete Opus zählt zu den bedeutendsten Werken nicht nur der Moderne, sondern der Geschichte der Sinfonik überhaupt. Dass es vergleichsweise selten gespielt wird, ist seinen enormen technischen und klanglichen Anforderungen geschuldet.

Umso größer war der Genuss, dieses monumentale und zugleich unendlich in sich differenzierte sinfonische Opus von Spitzenkönnern dargeboten zu bekommen, die solistisches Virtuosentum und Einstimmung in den Gesamtklang auf geniale Weise miteinander zu verbinden wussten, unter der meisterlichen Leitung des in sich ruhenden Kraftzentrums Sir Simon Rattle. Im Schweigen und in der Stille nach dem Verlöschen der Schlusstöne kehrte das Stück langsam zu sich selbst zurück, die Musik, der Dirigent, die Instrumentalisten, und jeder Einzelne unter den Zuhörern, bis dann, zu früh, das entfesselte Publikum in nicht enden wollenden Beifall ausbrach, der einer einzigen Hoffnung Ausdruck zu verleihen schien: Dass das Bukarester Publikum nicht noch einmal sechs Dutzend Jahre warten muss, um die Berliner Philharmoniker von Neuem in der rumänischen Kapitale hören, erleben und genießen zu können.