Jenseits der Bahnlinie

Cătălin Mitulescus neuester Film „Dincolo de calea ferată“ in den rumänischen Kinos

Ada Condeescu und Alexandru Potocean in „Jenseits der Bahnlinie“

Jenseits der Bahnline, so lautet die deutsche Übersetzung des Titels von Cătălin Mitulescus jüngstem Spielfilm „Dincolo de calea ferată“, der am 22. April seine rumänische Kinopremiere hatte. Er greift ein hochaktuelles Thema von großer Brisanz auf, das Rumänien politisch wie gesellschaftlich seit langen Jahren mit gleich bleibender Intensität beschäftigt: das Thema der rumänischen Arbeits- und Wohlstandsmigration innerhalb der Europäischen Union, das tief in Lebensläufe, Familienstrukturen, psychische wie gesellschaftliche Verhältnisse in Rumänien eingreift und in seiner wahren Tiefe und politischen Bedeutung bislang vielleicht noch gar nicht richtig ermessen wurde.

In Cătălin Mitulescus jüngstem Film geht es um eine Kleinfamilie, die durch die migrationsbedingte Abwesenheit des Vaters auseinandergerissen zu werden droht. Radu, verkörpert von Alexandru Potocean, arbeitet seit einem Jahr als Kellner in einem Restaurant am oberitalienischen Gardasee. Er hat sich dort gut integriert, spricht Italienisch, wird von seinen Kollegen und von seiner Chefin geachtet und geschätzt. Seine Frau Monica, dargestellt von Ada Condeescu, ist mit dem kleinen Luca in ihrem erst zum Teil fertig gestellten Häuschen am Stadtrand von Bukarest zurückgeblieben, wo sie sich, unterstützt von den Eltern und überhäuft mit Geschenken des in der Ferne arbeitenden Mannes, alleine durchschlägt. Nachdem Monica schon seit geraumer Zeit auf Radus Telefonanrufe nicht mehr antwortet, beschließt dieser, für ein paar Tage nach Hause zu fahren, um dort in Rumänien nach dem Rechten zu sehen.

An der Endstation der internationalen Buslinie Eurolines in der Bukarester Buzeşti-Straße wird Radu von der in ein dünnes und tief dekolletiertes violett glänzendes Abendkleid gewandeten Monica recht distanziert, wenn nicht gar abweisend, empfangen und in ein Taxi verfrachtet, in dem der gemeinsame Sohn Luca schläft. Die nächtliche Dunkelheit, die die Gesichter gänzlich verhüllt oder in Halbschatten taucht, unterstützt optisch die Irritation, die das Wiedersehen des Paares beherrscht. Monica möchte zunächst gar nicht nach Hause und unterbricht die Taxifahrt, um ein Eis zu essen, während Radu sie verdächtigt, sie habe den Kauf des Eises nur zum Anlass genommen, um heimlich einige Worte mit einem Motorradfahrer zu wechseln, der Radus Ansicht nach dem Taxi hinterhergefahren sei.

Schließlich hält das Taxi am Stadtrand von Bukarest vor einer Bahnlinie, wo die dreiköpfige Familie aussteigt, die Schienenstränge überquert, um in ihr Haus zu gelangen, das direkt an der Bahntrasse liegt und an dem ständig Züge laut hupend vorbeidonnern. Die Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens gipfelt zuhause schließlich in Monicas Bekenntnis, sie habe Radu während seiner Abwesenheit betrogen, was Radu gleichsam unbeteiligt aufnimmt und lediglich durch die Frage kommentiert, wer Monicas Geliebter denn sei. Ihre ausweichenden Antworten legen den Verdacht nahe, dass sie Radu durch ihr möglicherweise nur gespieltes Eingeständnis vielleicht bloß quälen möchte, so wie dieser sie durch seine schmerzliche Abwesenheit lange Monate gequält hat. Unmittelbar darauf ist Monica mit einem Male plötzlich verschwunden und der durch die lange Busreise übermüdete Radu mit seinem Sohn im Haus allein.

Dann beginnt, nach dem Auftakt in Italien und der Szene mit dem Wiedersehen in Bukarest, ein neuer Akt in Mitulescus Film: eine Hochzeit jenseits der Bahnlinie, die nachträglich auch Monicas Aufmachung erklärt. Im von der Kamera (Liviu Marghidan) festgehaltenen Festestaumel, der sich mit vergleichbaren filmischen Darstellungen etwa in Werken Emir Kusturicas durchaus messen kann, zieht der Regisseur und Drehbuchautor Mitulescu alle Register, von der rührseligen Verbrüderung bis zur heftigen Schlägerei, von der geteilten Freude bis zum ungeteilten Leid. Komik, Tragik, Ausgelassenheit, Melancholie, Aggressivität und Wehmut wechseln in schneller Folge, bis die Braut neuerem rumänischen Brauchtum zufolge entführt wird, besser gesagt: Sie flieht vor der unsäglichen Hochzeit zum Athenäum, um von dort vor dem Bräutigam wieder zur Hochzeitsfeier zurückzufliehen.

Im Verlauf jener nächtlichen Hochzeit scheinen Radu und Monica einander wieder näherzukommen, einzelne Blicke, gelegentliche Berührungen verheißen Wärme und Rückkehr der entbehrten Nähe. Auch das (blinde?) Motiv des Nebenbuhlers hat auf der Hochzeit seinen Auftritt in Gestalt eines behelmten Motorradfahrers, der bei Tagesanbruch durch die Festgemeinde braust, seine schwere Maschine mit Burn-out-Effekten geräuschvoll im Kreise driften lässt, um dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, während in einer späteren Szene sein Helm als drohendes Menetekel neben dem geprügelten und seelisch verwundeten Bräutigam zu liegen kommt.

Beim morgendlichen Rückweg über die Bahngleise nach Hause ist die Situation jedoch wieder dieselbe wie vor der nächtlichen Hochzeitsfeier. Monica bleibt dabei, sie wolle sich von Radu trennen, während Radu sie ins Gras und sich auf sie wirft, um Monica auf diese Weise vielleicht wieder zurückzugewinnen. Ein vorbeidonnernder Zug, der Monica fast noch erfasst, gemahnt beide daran, dass die Rettung nicht auf der sich in der Ferne verlierenden Zugstrecke, sondern allein jenseits der Bahnlinie liegt: im gemeinsamen Heim, in der Vollendung des zusammen Begonnenen.

Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? – so könnte man mit den Worten Thomas Bernhards diesen Film befragen und würde keine eindeutige Antwort erhalten. Auf jeden Fall ist Mitulescus Film ein Wagnis, das nicht zuletzt durch die beiden exzellenten Hauptdarsteller, Alexandru Potocean und Ada Condeescu, zum Gelingen geführt wird. Ihre überragende Präsenz, ihr gegenseitiges Verständnis im bewusst betriebenen oder sich bloß ereignenden Einander-nicht-Verstehen, ihre behutsame gegenseitige Annahme bei aller widerspenstigen Verweigerung, machen den Film zu einem sehenswerten Opus, das durch die Musik des schwedischen Komponisten Jean-Paul Wall, dessen Soundtrack auch auf rumänische Songs und Schlager zurückgreift, sich zusätzlich empfiehlt.

Am Ende wird der Zuschauer vom Regie führenden Drehbuchautor sogar noch mit einem Happy End belohnt. Man sieht Radu im Schlussakt wieder allein als Kellner an seinem vorigen Arbeitsplatz, dem Restaurant an der Seepromenade von Riva del Garda, und sieht ihn gleich darauf gemeinsam mit Monica und Luca am Kiesstrand des Gardasees liegen. Ist es noch Urlaub? Ist es schon Alltag? Die Antwort auf diese zwei Fragen muss sich der Zuschauer am Ende selbst geben.