Klein, Brille, Segelohren

ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher

„Kann ich bitte löschen, was ich gerade gesagt habe?“, Torsten Wohlleben, Carlsen Verlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/Pavilion, www.goethe.de/ bukarest

Verzweifelt hockt der 16-jährige Henner vor dem Computer. Denkt: „Kann ich bitte löschen, was ich gerade gesagt habe?“ Immer wieder hatte er eine Nachricht an die schöne Valerie auf der elektronischen Klassenpinnwand auf Facebook eingegeben. Und immer wieder kurz vor dem Abdrücken gelöscht. Bis es dann passiert ist. Der Bildschirm baut sich neu auf und – oh Schreck! Er hat doch tatsächlich statt der Back-space-Taste Enter erwischt! „Valerie valero, ohne dich bin ich k.o.“, so lautet der letzte Satz der Botschaft. Jetzt weiß es die ganze Klasse…

Wegen Valerie Böhmer wird er wohl auch Geschichte vergeigen, denn in Geschichte sitzt sie neben ihm und er kann sich auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf ihren Duft. Valerie, der Klassenschwarm: Schwarze lange Haare, hautenges Shirt, gemusterte Strümpfe, die, auch wenn sie nicht immer so zum Rock passen, gnadenlos gut aussehen. Im Gefolge stets Tara, Mara und Lara, die eigentlich Tamara, Martha und Laura heißen, aber Valerie wie Tick, Trick und Track den Disney-Donald umkreisen. Und Henner? 1,65 Meter klein, Brille, Segelohren. Henni-Penni, wie ihn seine Kumpels Jakob und Luis nennen, macht sich keine Hoffnung auf Val. Wer will schon einen Harry Potter, bloß mit noch dünnerem Haar, der noch dazu gut in der Schule ist - außer, wie schon erwähnt, in Geschichte? Und überhaupt, ist er für Jakob und Luis nicht bloß die „dickere Freundin“? Das ist so eine Theorie, die Henner mal gelesen hat: dicke Mädchen suchen sich gerne eine noch dickere Freundin, damit sie selbst besser dastehen.

Trotzdem will Henner unbedingt mit auf Helgoland, als Luis auf Facebook postet, er müsse die Ferien dort mit seiner Mutter verbringen, bei dieser und ihrem neuen Freund - brechend langweilig, so allein, ob nicht jemand aus der Klasse Lust hätte, mitzukommen? Und Valerie postwendend antwortet: Na, vielleicht schauen wir mal vorbei! Wir? Wer ist wir, sinniert Henner. Und träumt schon von Sonnenuntergang und Strandromantik zu zweit, man wird ja wohl noch träumen dürfen… Einen Sommer lang Valerie vergeblich anzuschmachten scheint Henner trotzdem besser als ein Sommer  ohne Valerie.

Schließlich ist es die halbe Klasse, die sich auf Helgoland treffen will. Henner, Jakob und Luis zelten, die Mädchen haben einen schicken Ferienbungalow gemietet, die anderen Jungs wohnen in einer billigeren Ferienanlage. Feiern, grillen, Schampus und Bier trinken, zocken, Volleyball am Strand, schwimmen oder zur „Langen Anna“ wandern, endlich mal alles tun, was die Eltern lieber nicht mitbekommen, Spaß haben und naja, auch mal Spott oder ein bisschen Zoff, und Zentralgestirn ist immer Val, die jedoch nur Luis schöne Augen macht, während Martha am Grillfeuer ihren Kopf an Jakobs Schulter legt. „Besetzt!“ tönt es eines Abends aus dem Zelt, als Henner und Jakob gerade schlafen gehen wollten. Und dann roch es die ganze Nacht nach Valerie Böhmer...

Ausgerechnet ein Missgeschick bewegt Henner dazu, sich aus seiner Rolle als Randfigur im eigenen Leben zu befreien: Um Valerie zu imponieren, schneidet er sich mit dem Trimmer die Haare. Das Ergebnis – zum Verzweifeln! Vielleicht kann meine Ma helfen, schlägt Luis vor, die hat früher mal Haare geschnitten. Henner kann nicht warten, macht sich heimlich im Morgengrauen auf, klopft an Esters und Matties Haus, und Ester erfasst sofort den „Ernst“ der Lage. Nach einer halben Stunde kann Henner das Ergebnis kaum fassen. Doch seltsam, nach kurzer Zeit bemerkt er, dass Valerie in seinem Kopf immer mehr in den Hintergrund gerät. Statt dessen denkt er an Leefke, das seltsame, stille Mädchen, das beim Haareschneiden mit in der Küche saß. Der Zufall will, dass sie sich erneut begegnen...

Doch Luis scheint es gar nicht zu passen, dass Henner sich auf einmal mit seiner Stiefschwester trifft. Und Valerie? Die lädt Henner doch tatsächlich zum Strandspaziergang ein! Sag mal, ist Luis immer so, fragt sie dann mit trauriger Stimme. Im Hintergrund Sonnenuntergang, Meeresrauschen. Und Henner stellt erstaunt fest, dass die schöne Valerie, in greifbare Nähe gerückt, gar nicht mehr das Ziel seiner Träume ist.

„Kann ich mal löschen, was ich gerade gesagt habe“ ist mehr als das Ringen eines schüchternen Jungen um Aufmerksamkeit oder die Geschichte einer beginnenden zarten Jugendliebe. Es geht um Freundschaft zwischen Jungs und Jungs, zwischen Jungen und Mädchen, um Gruppendynamik und darum, Grenzen zu überschreiten, um Selbstbeweis und Selbstfindung – und dies in einer herrlich flapsigen Jugendsprache, die einen zwischen den Zeilen immer wieder heftig schmunzeln lässt.


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.