Kopftuch im Iran und politisch korrektes Europa

Comic-Roman von Marjane Satrapi spürt der Härte der Welt nach

Seite 1 der deutschsprachigen Ausgabe des Comic-Romans „Persepolis“ - Literaturkritiker Ijoma Mangold interpretierte in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung, dass „Marjane Satrapi nicht für iranische Leser schreibt, sondern für jene westliche Welt, die gewissermaßen vor lauter Kopftüchern die Vielfalt der realen Gesichter des Iran nicht sehe.“ Foto: comic.highlightzone.de

Wie es sich wohl anfühlen mag, in einem Land der Unfreiheit aufgewachsen zu sein und als junger Mensch irgendwo auf dem alten Kontinent eine neue Heimat zu suchen, weil es daheim im Nahen, Mittleren oder Fernen Osten nicht mehr zum Aushalten ist, kann man sich in der Europäischen Union heute kaum noch vorstellen. Denn in Europa hat der sprichwörtliche Frieden auf Erden bereits das Alter von 75 Jahren erreicht. Ob ihm für die Zukunft eine biblische Altersreife beschieden ist? Die Mehrheit der Menschen, die in Europa leben oder auf dem Weg nach Europa sind, lässt sich von der Hoffnung auf möglichst langlebigen Frieden treiben. Menschen, die als Zeitzeugen vom Waffenstillstand des Zweiten Weltkrieges berichten können, sind unterdessen gar nicht mehr so leicht zu finden. Glücklich, wer jemanden kennt, die oder der noch persönlich von Schrecknissen aus der Zeit der Jahre 1939 bis 1945 zu erzählen weiß.

Einen Krieg oder eine Revolution unmittelbar am eigenen Leben gespürt zu haben, ist schwer zu verwinden. Europäer, die vor dem Berliner Mauerfall im November 1989 und dem Einsturz der Sowjetunion einschließlich ihrer kommunistischen Satellitenstaaten als Jugendliche oder Erwachsene auf der unfreien Seite des Eisernen Vorhangs standen, können sich noch am ehesten ausmalen, wie die Welt zu Ende des Zweiten Weltkrieges ausgehen haben mochte.

Für uns alle in Europa sollten Frieden und Freiheit als die größten Geschenke zählen, die wir uns wünschen können. Weil es auch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch immer ein hartes Stück Arbeit bedeutet, beides am Leben zu erhalten. Streit und Krieg sind schnell vom Zaun gebrochen. Sobald man das Gebot der Geduld über Bord wirft, geraten Frieden und Freiheit zu einer Zerreißprobe.

Marjane Satrapi wurde 1969 im Iran geboren und wuchs in der Hauptstadt Teheran auf. Ihre Eltern versuchten stets ein Leben zu führen, das mit dem Ideal bildungsbürgerlicher Freiheit und eines dezenten Wohlstands übereinstimmen sollte, hatten es aber nicht leicht, ihrer Tochter Marjane Resilienz vor den Unmöglichkeiten des politischen Alltags beizubringen. Als 1979 die Islamische Revolution ausbrach, der säkular regierende Schach den Iran Hals über Kopf verlassen musste und 1980 die strikte Kopftuch-Pflicht für Mädchen und Frauen im Land wiedereingeführt wurde, begann für Marjane Satrapi ein Dauerkonflikt, an dem sie selbst keine Schuld hatte. Marjane Satrapi lebt heute als Comiczeichnerin und Illustratorin in Frankreich. Weil sie in einer freiheitsliebenden Familie geboren wurde und sich dem diktatorischen Regime des Ayatollah Ruhollah Khomeini vom allerersten Schultag an nicht unterordnen wollte, entschieden ihre Eltern 1984, sie nach Wien zu schicken.

Die junge Marjane aus Teheran reiste mit dem Flugzeug nach Wien, wo sie die Schule besuchen und sich kulturell frei entfalten können sollte. Im November 1984 startete sie in ihren neuen Alltag in Österreich. Die ersten zehn Tage wohnte sie bei der dreiköpfigen Familie ihrer Tante, die ebenfalls aus dem Iran nach Wien geflohen war. Doch weil in der Gastfamilie der Haussegen ordentlich schief hing, brachte Tante Zozo ihre Nichte in eine von Nonnen geführte Jugendlichen-Pension für betreutes Wohnen. Dort, im bescheiden eingerichteten Heim, teilte Marjane das Zimmer mit der Österreicherin Lucia. Marjane, die sich zuhause im Iran allenfalls für den Kult um die spirituelle Namensfigur Zarathustra interessiert hatte und nie etwas auf die radikale Form des islamischen Glaubens gegeben hatte, wusste in Wien nichts mit Weihnachten anzufangen. Sie war nicht nach Europa gekommen, um beschenkt zu werden. Marjane wollte nur Freiheit.

Entscheidend ist die Menge

Über ein Zuviel oder Zuwenig in Sachen Freiheit hatte sie sich noch nie wirklich Gedanken gemacht. Daheim im Iran war es ja auch so gut wie verboten gewesen, öffentlich zu zeigen, dass man sich nur mit Widerwillen an gesetzliche Vorgaben hält. Wer auf der Straße einen Streit mit der Polizeipatrouille oder mit Angestellten einer anderen öffentlichen Behörde wagte, musste damit rechnen, sofort ins Gefängnis gesteckt werden zu können. Marjane Satrapi aber hatte immer das Bestmögliche aus den Umständen gemacht: Sie hatte ein Super-Verhältnis zu ihren Eltern aufgebaut und war in der Schule immer ganz vorne mit dabei gewesen. Mit ihren starken Fähigkeiten in Mathematik schoss sie gleich bei der allerersten Klassenarbeit am Gymnasium in Wien den Adler ab. Sie hatte früh gelernt, sich mangels Ablenkungsangeboten auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Im Iran war es immer leichter als gewollt, sich Gefängnishaft oder Schlimmeres einzuhandeln. In Österreich genoss Marjane die neue Freiheit in vollen Zügen und war nicht darauf gefasst, dass auch Menschen des christlichen Abendlandes ins Fettnäpfchen treten können. Es geschah an einem Abend im Februar, also drei Monate nach ihrer Ankunft in Wien – Marjane kochte sich in der Küche des Jugendlichen-Wohnheims, wie gewohnt, eine Portion Spaghetti und ging mit dem vollen Topf in den Fernsehkeller. Über den Bildschirm flimmerte gerade eine Folge der Krimiserie „Derrick“, für die sich auch die pädagogisch beauftragten Nonnen des Wohnheims begeisterten. Marjane setzte sich mit dem vollen Spaghetti-Topf im Arm zu den drei Ordensschwestern vor den Fernseher und verfolgte den spannenden Krimi Pasta kauend aufmerksam mit.

Schwester Birgit wollte sich das nicht bieten lassen und stand auf, um Marjane zu maßregeln. „Aber hier sitzen doch alle stets essend vor dem Fernseher“, entgegnete Marjane. „Aber doch nicht direkt aus dem Kochtopf!“, schimpfte die Ordensschwester zurück, um gleich nachzusetzen: „Was man sich über die Menschen aus dem Iran erzählt, trifft zu. Sie haben mit Erziehung nichts am Hut“. Marjane jedoch hatte eine schlagfertige Antwort auf der Zunge, denn „was man aus dem Hörensagen über euch erfährt, stimmt genauso. Vor eurem Leben als Nonnen habt ihr als Prostituierte gearbeitet!“

Marjanes Bestrafung folgte auf dem Fuß – nicht Einweisung ins Gefängnis, sondern Rauswurf. Die Ordensschwestern schrieben Marjanes Eltern einen Brief, worin sie vorgaben, Marjane beim Klauen von Joghurt und Früchten erwischt zu haben. Und Marjane habe das Wohnheim anschließend freiwillig verlassen. Marjanes Eltern aber merkten beim Lesen des Briefes, dass irgendwas nicht stimmte.

Hardcover mit 350 Seiten Schmackes

Beim Lesen von Marjane Satrapis Autobiographie „Persepolis“ bekommt das ungeschriebene Gesetz Europas und der westlich wohlhabenden Welt, beim Sprechen stets auf politisch korrekten Ausdruck zu achten, sein Fett weg. Denn im schwarzweißen Comic-Roman von Marjane Satrapi, der zu Anfang des dritten Jahrtausends in vier Bänden binnen vier Jahren den Büchermarkt Frankreichs erobert hat, geht die Post ab. Integration ist ein heißes Eisen. Selbst beim Blättern in der rumänischen Ausgabe von „Persepolis“, die der Bukarester Verlag Grup Editorial ART S.R.L. im Frühjahr 2018 in zwei Bänden veröffentlicht hat, fällt auf, dass die Gewohnheit, kulturelle Unterschiede zwischen Europa und den geopolitischen Konfliktstaaten des Nahen und Mittleren Ostens zu verallgemeinern, die Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort verfehlen kann. Dass in Europa mehrheitlich gut gesinnte Menschen und in Ländern wie dem Iran mehrheitlich böswillige Menschen leben, ist weder politisch korrekt, noch in den nicht frei erfundenen Sprechblasen des autobiographischen Comic-Romans von Marjane Satrapi wiederzufinden.

Persepolis ist der Name einer von vier Hauptstädten der antiken Weltmacht Persien, deren 20 Provinzen von ´Satrapi´ genannten Gouverneuren geführt wurden. Die archäologische Fundstätte von Persepolis misst eine Fläche von 12,5 Hektar und wurde 1979 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen – in genau dem Jahr, als die Islamische Revolution den Iran um seine laizistische Staatsform brachte. Dass der Iran seither unter der Führungsgewalt von radikalen Organen des Islam steht, bedeutet nicht, dass dort heute nunmehr ausschließlich Menschen leben, denen Gewaltenteilung und weitere Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht wichtig sind.

Mihaela Dobrescu hat „Persepolis“ von Marjane Satrapi geschickt in die rumänische Sprache übertragen und dadurch genau jenes orientalische Bild vom Iran multipliziert, das sich ganz und gar nicht auf die medial aufgebauschten Kriegsbilder der Region beschränkt. Marjane Satrapi lebt in Paris und ist weit weg von Europa in einem Land aufgewachsen, das ihr viel Kummer bereitet hat. Trotzdem wünscht sie ihrer Geburtsheimat keine Zerstörung, sondern bestimmt das Gegenteil davon. Die deutsche Übersetzung ihres autobiographischen Comic-Romans „Persepolis“ stammt von Stephan Pörtner und ist seit 2013 bei der schweizerischen Edition Moderne erhältlich. Als Schach Mohammed Reza Pahlavi 1979 aus dem Iran flüchtete und Jimmy Carter, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (USA), ihm das Recht auf Asyl verweigerte, sagte Marjane Satrapis Vater zu seiner Tochter und sich selbst, dass „wir keinen Frieden haben werden, solange im Mittleren Osten Erdöl zu finden ist.“