Künstlerleben auf der Schnellstraße

Hinter den Kulissen einer Opernvorführung

Nicht alles klappt bei der ersten Probe: Die Solisten folgen den Anweisungen des Regisseurs.

Die Generalprobe, ein paar Stunden vor der Vorführung. Das Orchester und die Solisten teilen sich die Bühne.
Fotos: Aida Ivan

Wie verrückt weht ein eiskalter Wind am Freitag Vormittag um halb zehn über den Bukarester Universitätsplatz. Völlig unabhängig davon wartet man, mit glühend heißem Kaffee in der Hand, neben dem Hotel Intercontinental auf den Dirigenten, der in zwei Tagen das Orchester in Focşani bei der Aufführung der Oper „La Traviata” leitet. Erst fährt Vincent Grüger nach Brăila. Steigt man ins Auto ein, entdeckt man eine bisher verborgene Welt: die der Berufsmusiker. Es ist eine Chance, die Künstler so zu erleben, wie sie im alltäglichen Leben sind, fern von der Pose, in der sie auf der Bühne auftreten.

Über das Wochenende darf man miterleben, was hinter den Kulissen vor einem großen Konzert passiert und wie sich die Künstler darauf vorbereiten. Auf dem Weg bekommt man einen Eindruck von dem Rhythmus der nächsten Tage. Der Dirigent ist völlig anders als auf der Bühne: im pausenlosen Hin und Her. Zwischen zahlreichen Telefonaten, die auf verschiedenen Handys und mit allerlei Mitwirkenden geführt werden, erklärt er lebhaft die Struktur des Orchesters und spricht über die Musiker im Einzelnen, als ob sie Mitglieder seiner eigenen Familie wären. Die eher väterliche Figur, die sich am Steuer entpuppt, erweckt den Anschein, dass sie keinen Unterschied zwischen Leben und Kunst macht.

Mit einbezogen in diese wohltuende konzeptuelle Verschmelzung sind natürlich Ehefrau und Kind, sie lässt der Dirigent später zum Konzert kommen. Zunächst einmal hält er sie liebevoll auf dem Laufenden. Wendet man den Blick von ihm ab, dann bekommt man eine Landschaft zu sehen, die stark mit der Stimmung im Auto kontrastiert – hohe Müllhaufen und verlassene Bauten, Ruinen einst vielleicht nicht gerade florierender, aber jedenfalls mit Leben erfüllter Industriegebäude. All das sieht der Dirigent nicht, beharrlich konzentriert er sich auf die noch ungelösten organisatorischen Kleinigkeiten.

Neue Städte, neuer Rhythmus

200 Kilometer weiter, als wir zu einem Zwischenaufenthalt die Stadt Br²ila erreichen, in der eine steife Brise vom Ufer der Donau bläst, hat man schon wesentlich mehr über die Oper erfahren, die später in Focşani aufgeführt wird. Die mitwirkenden Musiker kommen aus verschiedenen Städten. Die Solisten und der Regisseur Marcel St²nciucu kommen von der Nationaloper Bukarest. Und die ursprüngliche Violetta Valery wurde vor Kurzem ersetzt, ihren Platz hat eine selbstbewusste Violetta eingenommen.

Die Zusammensetzung und „Infrastruktur” des ganzen Teams, das an der konzertanten Opernvorführung teilnimmt, lernt man einigermaßen verstehen, da der Dirigent permanent in Verbindung mit den Mitwirkenden bleibt: Zum Beispiel mit Valentin Gheorghiţă, dem Manager des Projektes und Direktor des Volksathenäums in Foc{ani, wo das Konzert stattfindet, mit Liviu Topală, seinem Assistenten, mit dem einen oder anderen Instrumentalisten. Einen spontanen Termin vereinbart der Dirigent mit dem Direktor der Volksschule für Musik „Vespasian Lungu” in Brăila, der ihn freundlich empfängt und ihm ein Konzert vorschlägt. Hier übernimmt der Dirigent die Rolle eines Managers und bespricht mit den potenziellen Partnern die Planung zukünftiger Konzerte. In einer weiteren Musikschule vertieft sich der Dirigent in organisatorische Gespräche bis zum Abend. Weitere 100 Kilometer entfernt erreicht man die Zielstadt: In Foc{ani wird es schon dunkel und der hartnäckige starke Wind, der den Eindruck erweckt, uns auch bis hierher zu verfolgen, ist für den beschäftigten Dirigenten fast nicht existent.

Am nächsten Tag finden sich um die Mittagszeit die Musiker aus verschiedenen Ecken des Landes zuerst beim Essen ein: Man erkennt sie an ihren dunklen Mänteln und schwarzen, kleineren oder größeren Schachteln, in denen sie ihre Instrumente tragen. Sie sind gerade angekommen, ihr Gepäck haben sie auch dabei. Schweigsam setzen sie sich brav an den Tisch. Auch hier fühlt man sich wie in der Mitte einer Familie. Hier lernt man den Regisseur Marcel Stănciucu kennen, der von einem Tisch zum anderen wechselt, um in Kontakt mit den Menschen zu kommen, mit denen er arbeitet. Ein sympathisch wirkender Mann, vielleicht Mitte fünfzig, mit einem kindlichen Blick hinter dem dicken Brillenrahmen. Er macht sich unter anderem über seine dreifache Bypass-Operation lustig, dafür beschuldigt er die Künstler im Spaß. Allmählich verschwinden die Musiker vom Tisch und die Großfamilie zieht ins Nationaltheater „Pastia“ um, denn demnächst muss die Probe beginnen. Die heutige Probe wird nur dieses Mal dort abgehalten und nicht im Athenäum, da hier am Abend der Popsänger Fuego ein Konzert hält.

Verhandlungen über  Fermaten und Tempo

Das Orchester probt mit drei von vier Solisten. Die Rolle des Alfredo spielt der Tenor Andrei Lazăr, Violetta ist die Sopranistin Simionida Lu]escu und Flora ist die Mezzosopranistin Cristina Eremia. Don Giorgio, der Bariton Vasile Chişiu, fehlt noch. Er kommt erst am nächsten Tag aus Bukarest. Auf dem Flur wärmt Violetta ihre Stimme auf, die durch das ganze Theater schallt. Der Regisseur versucht ungeduldig, seinen Laptop an das Audiosystem des Theaters anzuschließen. Alfredo fotografiert mit seinem Smartphone die schönen Verzierungen im Foyer. Flora probiert ihren weißen Assistentinnenmantel und zeigt stolz auf das rote Kreuz, das sie selbst darauf genäht hat. Die Musiker im Orchester üben selbstständig und chaotisch. Der Dirigent schaut in seine Notenhefte. Und dann beginnt es.

Gespielt werden nur Auszüge, die Generalprobe findet am Tag des Konzertes statt. Auf einmal erklärt Alfredo seine Liebe für Violetta: Auf den Knien umarmt er ihren langen dunkelroten Chiffonrock und sucht die Hand seiner Geliebten. Ihre musikalische Leistung wird von Mădălina Florescu überwacht, der Korrepetitorin, die aus Bukarest mitgekommen ist. Souverän betreut sie die Solisten.

Auf der Bühne spielt das Orchester auf der linken Seite, die rechte gehört den singenden Solisten. Plötzlich bricht der Regisseur das Ganze ab und beklagt sich mit unschuldiger Miene über die Stimmen der Sänger. „Lass das, Marcel, sie sollen sich erst aufwärmen”, erwidert die Korrepetitorin zwei Sitzreihen dahinter mit den Händen in den Hosentaschen. Der Regisseur verhandelt weiter mit den Solisten. Er erklärt ihnen, wie sie sich das Wunder der Liebe vorzustellen hätten. Dafür übernimmt er die Rolle der Violetta und spricht die Gedanken aus, die sich Violetta gemacht haben muss: „Ich bin ein ehrliches Mädchen, also ... was soll ich mit Ihnen (Alfredo) anfangen? Liebe ich ihn, liebe ich ihn nicht?” Die Solistin macht in der Begleitung des Orchesters weiter. Dann ärgert sich der Regisseur auch über das Tempo der Musik, wieder erklärt er, diesmal dem Orchester, was für Gefühle vermittelt werden sollen.

Jede einzelne Person, als Teilchen des Systems, erfüllt eine bestimmte Funktion, die sie mit Genauigkeit zu erfüllen hat. Zu sehen bekommt man ein ständiges Hin und Her: Die Solisten bewegen sich auf der Bühne stets dorthin, wo der Regisseur gerade hinzeigt. Das Orchester übt die Passagen unter der Leitung des Dirigenten und bekommt kaum mit, wenn der Regisseur es aufzuhalten versucht. Mădălina erklärt dem Regisseur ein Missverständnis, dieser ist versunken im Nachdenken und durchwühlt seine Papiere. Nur der Lichttechniker sitzt ruhig und isoliert auf einem Stuhl in einer der ersten Reihen.

Im Hintergrund hört man, begleitet vom Getön der Instrumentenklänge und Regieanweisungen, Debatten über die Existenz oder Nichtexistenz einer Fermate, über die Veränderung des Tempos, über die Positionierung des Stuhls auf der Bühne oder über die Bewegungen der Solisten. Stunden später gesteht Violetta, dass sie Halsschmerzen wegen der Kälte im Saal bekommen hat. Die Instrumentalisten spüren die Kälte nicht, sie sind daran gewöhnt. Bei anderen Konzerten war es noch kälter, meinen sie. Schließlich und endlich wird die Probe beendet, schnell müssen sich die Musiker im Hotel einchecken. Auch dort hört man auf dem Flur bis spät abends eine männliche Stimme, die vokalisiert.

Ein Konzert wurde gegeben, ein nächstes wird ihm folgen

Am Sonntag treffen sich die Musiker wieder beim Essen. Wieder haben sie ihre unerlässlichen schwarzen Kästen mit den Instrumenten und ihr Gepäck dabei, denn gleich nach dem Konzert werden sie nach Hause fahren. Nachdem sie zu Mittag gespeist haben, gehen sie in Richtung des Volksathenäums Pastia zur Generalprobe. Das Kind des Kontrabassisten sitzt in der ersten Reihe und winkt seinem Vater zu, der ihm mit einem diskreten Lächeln antwortet. Diesmal ist auch Alfredos Vater dabei, er ist gerade angekommen. Die Probe beginnt und nimmt ihren üblichen Verlauf: Jeder, der mitmacht, weiß jetzt besser, was er zu tun hat und konzentriert sich auf die eigene Aufgabe. Violetta hat sich tatsächlich erkältet, sie kann kaum singen. Sie fürchtet, dass sie nicht gut singen wird, und geht deshalb mit dem Regisseur zum Dirigenten, um zu versuchen, ihre Rolle zu verkürzen.

Zwei Stunden vor dem Konzert ist der Saal völlig leer. Alle sind verschwunden, um sich vorzubereiten. Die Solisten müssen sich anziehen, die Instrumentalisten entspannen sich vielleicht bei einer Zigarette. Allein der Regisseur kommt herein und beschäftigt sich im Saal, ab und zu tritt ein Musiker ein. Carol, der Sohn von Vincent Grüger, der heute mit seiner Mutter von Don Giorgio mitgebracht wurde, fühlt sich im Athenäum wie zu Hause: Er läuft zu seinem Vergnügen zwischen den Stühlen des Balkons, stößt sich an, duckt sich, und beginnt wieder zu laufen.

Mit der Zeit wird der Saal aber voll. Die Aufführung beginnt mit einem alten Alfredo, der im Rollstuhl im Krankenhaus sitzt und sich beim Anhören von Radiosendungen an die Zeiten seiner Jugend erinnert. Ein moderner Rahmen für eine alte Geschichte, der beim Publikum in Focşani gut ankommt. Nach dem Beifallssturm am Ende des Konzertes kommen die Musiker zum letzten Mal zusammen. Bei einem Glas Wein diskutieren sie ihre Eindrücke über das Konzert, machen sich Versprechungen und schmieden Pläne für die Zukunft, bevor sie wieder losfahren.

Eine Mitfahrgelegenheit bietet diesmal der Vater von Alfredo, Don Giorgio, dessen Haar auch nach dem Konzert noch weiß gefärbt bleibt. Als wir noch auf den Oboisten warten, der ebenfalls in der Hauptstadt wohnt, telefoniert der Bariton mit seinen Kindern, sie werden schlafen, wenn er in Bukarest ankommt. Dann flitzt er nach Hause, denn am kommenden Tag gibt es eine neue Probe bei der Oper. Um Mitternacht ist man alleine auf einer Bukarester Straße, wo der Wind nach wie vor weht und die Straße leerfegt.