Liebe als Gefängnis

Richard Wagners „Tristan und Isolde“ in der Stuttgarter Staatsoper

Noch bevor die ersten Takte des Vorspiels erklingen, ruht der Blick des Zuschauers der Stuttgarter Neuinszenierung von Richard Wagners „Tristan und Isolde“, die am 20. Juli im Großen Haus der baden-württembergischen Landeshauptstadt Premiere hatte, auf dem Bühnenvorhang, der zu Beginn eines jeden Aktes zunächst das hinter ihm Verborgene verhüllt, bis er dann allmählich auf das Bühnengeschehen hin durchsichtig wird und sich schließlich gänzlich hebt. Ihn schmückt die Abbildung des ‚Panopticon’ von Jeremy Bentham, das Michel Foucault in seiner Schrift „Die Geburt des Gefängnisses“ folgendermaßen beschrieben hat: „An der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht.“ Dieser Turm, der einem Bergfried ähnelt, verkörpert gleichsam das Prinzip der Macht: sie muss überall sichtbar, darf aber nirgends einsehbar sein!

Im zweiten Akt der Wagnerschen Oper taucht dieser Turm dann auch auf der Bühne selbst auf, als Warte, von der herab Brangäne die Liebenden Tristan und Isolde vor dem nahenden Morgen und vor der Entdeckung ihrer heimlichen Liebe warnt, so wie unzählige Tagelieder in der Alba-Tradition des Mittelalters dies präfiguriert haben. Vom Turm herab späht aber auch das wachsame Auge Melots, der die verbotene Liebe der beiden seinem König Marke entdeckt, ebenso der schützende Blick Kurwenals, der seinen Herrn und Freund Tristan vergeblich vor den Augen der listigen Verfolger zu bewahren sucht. Die Liebe erscheint hier also als Gefängnis, aus dem es keine Möglichkeit des Ausbruchs gibt, weil dieser schnurstracks ins Gefängnis zurückführt. Damit stellt die Stuttgarter Inszenierung provokant das Moment der Liebesqual in ihr Zentrum. Für Tristan und Isolde ist Liebe Qual, die Liebenden quälen sich und einander, sie sind und sie werden gequält.

Nachdem das „Tristan“-Vorspiel mit seinen suchend-tastenden, quälend-schmachtenden Tonfolgen verklungen ist und sich der Bühnenvorhang gehoben hat, erblickt man eine Bühne (Bert Neumann), die aus mehreren Bildern Caspar David Friedrichs komponiert scheint: die Weite der See aus dessen Gemälde „Der Mönch am Meer“ ist in Beziehung gesetzt zu Friedrichs nächtigen Bildern des Gestades. Gekonnt wird der Zuschauer in einen Zustand des Schwebens versetzt, dem die Musik (Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling) bereits Vorschub geleistet hat. Die vordere und die hintere Kulisse heben und senken sich langsam und stetig wie die Dünung des Meers, und das mit seiner vollen Breitseite sichtbare Schiff schwebt und schwankt dazwischen, sodass die Gewichte der aufs Schiff gepackten Standuhr wie Pendel hin und her schwingen.

Noch bevor die Opernhandlung selbst durch den Liebes-, Todes- oder Vergessenstrank Brangänes ins Wanken gerät, wird der Zuschauer also bereits optisch in eine Zwischenwelt des Schwebens versetzt, die ihn aus der Sicherheit seiner Umgebung in die Unsicherheit und Haltlosigkeit der Emotionen entführt, die just in dem Moment, als sich das Schiff dem sicheren Port naht, aus dem glücklich-unglückseligen Liebespaar herausbrechen.

Der zweite Akt spielt in Klingsors Welt, einem Zauberwald, in dem silberner Glitter gleich Flechten von überwachsenen Bäumen herabhängt. Hier spielen Regie und Dramaturgie (Jossi Wieler und Sergio Morabito) mit der Nacht-Licht-Metaphorik, die schon in der religiösen Mystik des Barockzeitalters („Nacht, lichter als der Tag“), vor allem aber dann in der Romantik eines Novalis und seiner „Hymnen an die Nacht“ paradoxreich sich entfaltet: Die nächtliche Dunkelheit leuchtet heller, als das Tageslicht dies je vermag. Wie zum hyperbolischen Beweis des Gegenteils, verschwindet in der Mitte des zweiten Aktes plötzlich der Zauberwald und grelles Licht aus tausend Neonröhren sticht den Liebenden (und auch dem Zuschauer) ins Auge, woraufhin sich Tristan und Isolde mit Tarnfarbe beschmieren und sich vor den erlöschenden Blicken König Markes, der unter einem Tarnnetz hervorkriecht, zu verbergen suchen.

Im dritten Akt ist dann allein ein Schiffswrack zu erblicken, das die Bühne für den Liebestod abgibt, dem Tristan stehend und stoisch entgegensieht, während Isolde elegisch um ihn trauert. Hier wirkt das Statuarische, wenn es auch von Wagners Text abweicht, klug und überzeugend, während umgekehrt die Versuche Wielers und Morabitos, bei der Personenregie den Protagonisten die ‚Schockstarre’ zu nehmen, bisweilen danebengehen. Die Alternative zu falscher Heiligkeit und Ehrfurcht, zu Verklärung und Überhöhung, wie sie so manchen „Tristan“-Inszenierungen anhaftet, muss nicht notwendig in Mätzchen bestehen: Tristan mutiert in Stuttgart zum Primaten mit Imponiergehabe, Isolde rammt sich ironisch-operettenhaft einen imaginären Dolch in den Leib, Kurwenal, der treue Diener seines Herrn, wird zum Hund, der sich der Flöhe halber kratzt, und für Tristan und Isolde ereignet sich der erotische Höhepunkt gleich zweimal, wenn nämlich die Fußsohle der Geliebten im Schritt des Liebhabers ruht.

Das Staatsorchester unter Sylvain Cambreling sorgt für Hörgenüsse der Extraklasse, vor allem in den Vorspielen zum ersten und dritten Akt, auch wenn es bei der Begleitung der Sänger dann und wann zu kräftig daherkommt und diese dadurch zuweilen an die Grenzen ihrer stimmlichen Möglichkeiten bringt. Unter den Sängern sind die beiden Rollendebütanten, der kalifornische Tenor Erin Caves als Tristan und die in Hamburg geborene Sopranistin Christiane Iven als Isolde, lobend hervorzuheben. Beide Rollen sind freilich, wie viele Wagner-Rollen, sängerische Marathonläufe, bei denen beide Sänger, um im Bilde zu bleiben, mit sehr guten Werten ins Ziel einlaufen, wobei Caves durch seinen konstanten Laufrhythmus beeindruckt, während Iven streckenweise schwächelt. Zu den musikalischen Höhepunkten der Inszenierung gehört gewiss das Duett „O sink hernieder, Nacht der Liebe“, in dessen balsamhaftem Piano sich auch feinere Regungen wunderbar entfalten können.

Überragend sind Shigeo Ishino als Kurwenal und Liang Li (in der Aufführung vom 23. Juli) als Marke, ferner die in Stockholm geborene Mezzosopranistin Katarina Karnéus als Brangäne, und auch der von Johannes Knecht einstudierte Chor begeistert in seinen seltenen Auftritten, selbst wenn ihm die Regie die Rolle eines das Schiff begleitenden Schwarms von Delphinen zuweist.

Aufs Ganze gesehen also ein musikalisch überzeugender, bühnenbildnerisch anregender, regiemäßig durchwachsener, insgesamt aber beeindruckender Opernabend, und zugleich die letzte Neuinszenierung einer erfolgreichen Opernsaison im Stuttgarter Großen Haus.