Liebe zum Schönen in Zeiten der Cholera

Stuttgarter Premiere von Benjamin Brittens Oper „Der Tod in Venedig“

Matthias Klink in der Hauptrolle des erfolgreichen Schriftstellers Gustav von Aschenbach
Foto: Oper Stuttgart

Benjamin Brittens letzte Oper „Death in Venice“ nach der berühmten Erzählung „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann sollte schon einmal in Stuttgart aufgeführt werden, und zwar in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu deren Uraufführung in England im Jahre 1973. Doch der damals in diesem Musikdrama für die Hauptrolle vorgesehene deutsche Opernsänger Wolfgang Windgassen verstarb 1974, und so dauerte es über vierzig Jahre, bis dieses musikalische Bühnenwerk in Stuttgart zur Aufführung gelangte: in der Regie und Choreografie von Demis Volpi, unter der musikalischen Leitung von Kirill Karabits und mit dem überragenden Matthias Klink in der Hauptrolle des erfolgreichen Schriftstellers Gustav von Aschenbach, der in Venedig die Schönheit, die Liebe und den Tod findet.

Das Libretto von Myfanwy Piper gliedert die Mannsche Meistererzählung in siebzehn Szenen, die der Novellenhandlung minutiös folgen. Um der Fülle der narrativen Personen musikdramatisch Herr zu werden, griff die Librettistin zum Kunstmittel der Verdichtung. Mehrere Erzählfiguren, die Thomas Mann nur lose mittels seiner an Richard Wagner geschulten Leitmotivtechnik aneinander band, werden in Brittens Oper zu einer einzigen Bühnengestalt verschmolzen (in der Premierenaufführung vom 7. Mai verkörpert durch Georg Nigl), die gleich sieben verschiedene Rollen in sich vereinigt: die des Reisenden, des ältlichen Gecks, des alten Gondoliere, des Straßensängers, des Hotelmanagers, des Friseurs und des Gottes Dionysos. Während bei Thomas Mann nur die vier erstgenannten Figuren Hypostasen des Hermes Psychopompos darstellen, des griechischen Gottes also, der die Seelen in den Hades führt, ordnete die Librettistin auch noch die drei letztgenannten Figuren diesem mythologischen Komplex des Seelenführers und Totengeleiters zu. Sie schuf damit ein substantielles dramatisches Pendant zum ubiquitären Ego der Hauptfigur der Erzählung, die das olympische Bewusstsein des allwissenden Erzählers bis zur Deckungsgleichheit teilt.

Da die Textfülle der Mannschen Novelle musikdramatisch per se nicht zu bewältigen ist, musste die Librettistin notwendigerweise Kürzungen vornehmen, am deutlichsten vielleicht an denjenigen Stellen, an denen sich Thomas Mann literarisch mit dem philosophischen Dialog „Phaidros“ von Platon auseinandersetzt. Durch zahlreiche rezitativische Passagen, durch oftmaligen Wechsel zwischen Sing- und Sprechstimme und durch verstärkt diskursive Elemente gelang es dem Komponisten im Verein mit seiner Librettistin, das brillante Textgebäude der Mannschen Erzählung mit Tönen und Klängen zu füllen und das literarische Geschehen musikalisch synästhetisch fühlbar und anschaulich werden zu lassen.
Dazu trug nicht zuletzt ein genialer Kunstgriff bei, mit dem Benjamin Britten den ideellen Kern der Mannschen Erzählung instinktiv erfasste. Denn der Schriftsteller und Sprachkünstler Gustav von Aschenbach muss in Venedig die bittere Erfahrung machen, dass Worte angesichts der ihn faszinierenden Schönheit versagen, dass Schönheit als solche ihn auf bestürzende Weise verstummen macht. Die apollinische Kunst bricht über dem dionysischen Taumel des Lebens in sich zusammen und geht in und an ihm jämmerlich zugrunde. „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben“, wusste bereits ein anderer großer Venedig-Dichter, August von Platen, zu sagen und charakterisierte damit das Drama der Existenz des Ästheten, der am Phänomen des Schönen zugrunde geht.

Nicht etwa ein moralisches Zurückschrecken vor dem Ausleben seiner homo- bzw. pädophilen Neigungen, sondern die Erkenntnis des Ungenügens der ästhetischen Existenz angesichts der chaotischen, irritierenden und überbordenden Fülle des Lebens stürzen den Künstler Gustav von Aschenbach in eine Krise, die zu seinem Untergang führt. Brittens Kunstgriff bestand nun darin, den polnischen Knaben Tadzio, in den sich Aschenbach verliebt, mit einem Tänzer, also mit einer stummen Rolle, zu besetzen. Damit ist von vornherein jegliches Kommunizieren zwischen dem beredten Liebenden und dem schweigenden Geliebten unterbunden. Wie durch eine Glaswand sind der Schriftsteller und der schöne Knabe (grandios getanzt von dem fünfzehnjährigen Ballettschüler der John-Cranko-Schule Gabriel Figueredo), der Singende und der Tanzende, der Begehrende und der Begehrte voneinander geschieden, ein dramatischer Umstand, den sich auch die Bühne (Katharina Schlipf) zunutze macht, indem sie Tadzio bei einem seiner Auftritte in einem Raum hinter mattem Glas tanzen lässt, zu dem sich nur einmal die Spiegeltüren auftun und Aschenbach für einen kurzen seligen Moment Zugang zum Objekt seiner Begierde gewinnt, wohlgemerkt aber nicht als redendes oder singendes Gegenüber, sondern als spiegelbildlich agierender stummer Tänzer.

Neben Tadzio sind auch die anderen gleichermaßen ephebenhaft agierenden Jünglinge der John-Cranko-Schule zu erwähnen, die Tadzios Spielkameraden verkörpern, mit denen er am Strand herumbalgt und mit denen er sich im athletischen Fünfkampf misst. Besondere Erwähnung verdient vor allem der den Gott Apollon tanzende David Moore, der mit seinen Tanzfiguren auch in andere kulturelle Dimensionen ausgreift, etwa als Shiva Nataraja in die des indischen Tempeltanzes, genauso wie Benjamin Britten in seiner Musik auch kulturelle Anleihen an die indonesische Gamelan-Musik machte, und all dies wiederum ganz konform der Mannschen Novelle, die den fremden Gott, den „kommenden Gott“ (Manfred Frank), den Gott, der aus dem Osten naht, Dionysos eben, beschwor. Genial auch die Idee, die Stimme des Apollon (Jake Arditti) aus dem Off kommen zu lassen, während David Moore dazu sichtbar auf der Bühne tanzt. Herausragend außerdem Joana Romaneiro, die Tadzios Mutter als Primaballerina tänzerisch Gestalt werden lässt.
Zu den genannten Tanz- und Gesangssolisten treten dann auch noch weitere hervorragende Balletttänzer und Chorsänger (Mitglieder des Staatsopernchors und des Kinderchors) hinzu, die in den Massenszenen (als Schiffspassagiere, als Hotelgäste, als venezianische Gestalten, als Straßensänger auf der Hotelterrasse und als Gefolge des Dionysos in der Traumszene) für musikalische und choreografische Dynamik sorgen, besonders eindrücklich in der zehnten Szene mit dem Hahaha-Gelächter und seiner enormen rhythmischen und akustischen Kraft. Fast bedauert man es, dass Britten in dieser Oper den Chor nicht noch mehr und nicht noch öfter in den Vordergrund gerückt hat, auch als Kontrast zu den langen Monolog- und Dialogpassagen des Protagonisten und seiner diversen Gegenüber. Besondere Hervorhebung verdient hier die als Erdbeerenverkäuferin agierende Lauryna Bendziunaite, die stimmlich, choreografisch und mit ihrem von Katharina Schlipf entworfenen Kostüm hervorsticht.

Man genießt an der Stuttgarter Inszenierung von Benjamin Brittens Oper „Death in Venice“ das gelungene Zusammenwirken von Dramaturgie (Sergio Morabito, Ann-Christine Mecke) und Regie (Demis Volpi), von Musik und Choreografie, von Sängern und Instrumentalisten, und das solchermaßen realisierte Gesamtkunstwerk wird von einem lebendigen und von einer Drehbühne dynamisierten Bühnenbild unterstützt, das Venedig, welches nach August von Platen „nur noch im Land der Träume“ liegt, nicht touristisch-real, sondern symbolisch-ideell erfahrbar macht: durch das Gold, den Nebel, das Labyrinthische, das Traumhafte, das Morbide und das Schöne. Die mittlerweile zweite Koproduktion der Oper Stuttgart und des Stuttgarter Balletts kann in den Monaten Juni und Juli wie auch in der kommenden Spielzeit 2017/2018 in Stuttgart in zahlreichen Aufführungen gesehen, gehört und genossen werden, ergänzt durch mehrere Veranstaltungen, die am 17. und 18. Juni dieses Jahres unter dem Titel „Werkraum Britten“ ebenfalls in Stuttgart stattfinden.