Medea in Stuttgart

Schauspiel von Franz Grillparzer und Oper von Luigi Cherubini

Cherubinis „Medea“ an der Staatsoper Stuttgart

Im Stuttgarter Schauspielhaus wird Grillparzers „Medea“ geboten. Fotos: Staatstheater Stuttgart

In den Staatstheatern Stuttgart ist derzeit der Medea-Stoff, den Euripides erstmals in eine dramatische Form gegossen hat, in den beiden Sparten Schauspiel und Oper auf der Bühne zu erleben. Im Kleinen Haus wird Franz Grillparzers Tragödie „Medea“ gegeben, und zwar in einer Inszenierung der slowenischen Regisseurin Mateja Koležnik, die am 14. Dezember vergangenen Jahres am Stuttgarter Schauspielhaus ihre Premiere feiern konnte. Und im Großen Haus ist Luigi Cherubinis Oper „Medea“ zu sehen, und zwar in einer Wiederaufnahme der Inszenierung von Peter Konwitschny aus dem Jahre 2017.

Beide Werke, das Schauspiel wie die Oper, greifen aus dem antiken Medea-Stoff das Finale heraus, also die Zeit in Korinth, wo Jason und Medea zusammen mit ihren beiden Söhnen bei König Kreon Zuflucht suchen. Dort verstößt Jason seine Gattin Medea, die für ihn das Goldene Vlies geraubt und aus Liebe zu ihm viel Schuld auf sich geladen hat, um die Königstochter Kreusa heiraten zu können. Aus Rache an dem treulosen Jason tötet Medea dann ihre eigenen Söhne und sorgt mit dieser Mordtat seit jeher für Entrüstung und Bestürzung bei den Lesern, Zuhörern und Zuschauern dieses irritierenden und verstörenden literarischen Stoffes der Weltliteratur.

Franz Grillparzers Schauspiel „Medea“ aus dem Jahre 1821 zählt dabei zu den Versuchen, den Medea-Stoff zu psychologisieren und ihm seine Brutalität und Schärfe, sofern das über-haupt möglich ist, ein wenig zu nehmen. So ist Medea bei Grillparzer weder verantwortlich für den Tod ihres Bruders noch für den ihres Vaters, und auch der Tod des Gewaltherrschers Pelias in Jolkos kann ihr nicht angelastet werden. Umso schwerer wiegt deshalb bei Grillparzer die Ermordung der beiden Söhne, welche von der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen folgender-maßen gedeutet wird: „Der Kindsmord ist eine Chiffre dafür, was es bedeutet, radikal verlassen zu sein, der Welt entrückt, nichts mehr da. Das Band zwischen Mutter und Kind ist eines unserer brisantesten kulturellen Bilder dafür, in die Welt eingebunden zu sein: Man muss sich permanent der Welt in Gestalt dieses jungen Lebens zuwenden. Die Zerstörung des Kindes heißt, jegliche Bindung zu dieser Welt zu kappen.“

Die Inszenierung der vielfach – zuletzt mit dem österreichischen Nestroy-Preis – ausgezeichneten slowenischen Regisseurin Mateja Koležnik konzentriert sich vor allem auf die psychologische Dimension des mythischen Geschehens. Der Purismus des Bühnenbildes sowie der Kostüme lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer ausschließlich auf Mimik, Gestik und Sprache, wobei Mateja Koležnik die Grillparzersche Tragödie nicht nur auf 75 Minuten Spieldauer verknappt, sondern auch in den Dramentext deutlich und pointierend eingreift.

Das gesamte Schauspielgeschehen spielt sich auf einer Treppe ab, die von Oskar Schlemmers berühmter „Bauhaustreppe“ (1932) inspiriert sein könnte. Diese Treppe, die von kalten Kacheln, wie man sie in Schwimmbädern oder Unterführungen antrifft, eingefasst ist, windet sich um einen verglasten Lichtschacht, hinter dessen milchig-trüben Scheiben man einer weiteren Treppe gewahr wird. Dieser Lichtschacht bietet nicht nur Raum für das gegenwärtige dramatische Geschehen, sondern gibt zudem den Blick frei in die Tiefe der Vergangenheit, aus der Gestalten von Medeas heimatlichen Gefilden und von den Stationen ihrer Flucht emporsteigen und so die dramatischen Vorgänge auf der Treppenbühne bildkräftig kommentieren.
Medea wird in dieser Inszenierung zum vielfachen Opfer. Der Tanz um das Goldene Vlies macht sie zur Heimatlosen, zur Flüchtenden, zur Asylantin, die nicht nur vom Staat, in dem sie Zuflucht sucht, verstoßen wird, sondern obendrein auch von ihrem eigenen Ehemann, der ihr außerdem noch die Kinder wegnehmen möchte. In diesem Kontext fällt die Grausamkeit von Medeas Kindermord ein stückweit auch auf die patriarchalische, xenophobe und misogyne Gesellschaft zurück, die Medea ausgrenzte und sie an den Rand der Auslöschung trieb. Die paradoxe Pointe dabei: Medea besitzt genau das, worauf sich das Verlangen aller richtet, nämlich das Goldene Vlies!'

Luigi Cherubinis Oper „Medea“ ist rund ein Vierteljahrhundert vor Grillparzers Tragödie entstanden. Die 1797 in Paris uraufgeführte Oper „Médée“ wurde schon bald in Berlin und Wien in deutschen Übersetzungen gegeben und begründete zuvörderst im deutschsprachigen Raum Cherubinis internationalen Ruhm. Die grandiose Gestaltung der Titelpartie durch Maria Callas in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sichert der Oper „Medea“ bis heute einen Platz im Repertoire der bedeutendsten Opernbühnen der Welt.
Für die Stuttgarter Inszenierung von Cherubinis „Medea“ durch Peter Konwitschny wurde eigens eine neue Übersetzung, basierend auf der Kritischen Ausgabe der Originalfassung von Heiko Cullmann, angefertigt, wobei zahlreiche redundante Passagen gestrichen wurden, was eine kompakte und konzentrierte Darbietung des dreiaktigen Cherubinischen Werks in etwas mehr als zwei Stunden ohne Pause möglich machte. Belebend auf das Gesamtgeschehen wirkten sich auch die Dialogpassagen aus, die nicht rezitativisch vorgetragen, sondern – wie etwa in Mozarts „Zauberflöte“ – volltönend gesprochen wurden und so einen lebendigen Kontrast zu den gesungenen Passagen der Oper bildeten.

Cherubini hält sich in seiner Medea-Version, deren Libretto von François-Benoît Hoffman stammt, an die traditionellen Varianten des Stoffes, wie sie bei Euripides und bei Pierre Corneille vorliegen. Gleichwohl verändert er die Rolle der Titelgestalt in Richtung auf eine moderne und selbst bestimmte Frau, die nicht Opfer ihrer blinden Rachsucht wird, sondern bis zum Schluss versucht, das grausame Ende mit rationalen Mitteln zu verhindern. So bietet sie ihren beiden männlichen Widerparts jeweils einen Deal an. Von Kreon erbittet sie Asyl und erklärt sich im Gegenzug mit einem gelegentlichen Besuchsrecht ihrer Söhne einverstanden. Und Jason bietet sie an, Korinth zu verlassen und auf ihre ehelichen Rechte völlig zu verzichten, wenn er nur ihre Söhne mitreisen lässt. Erst nachdem die beiden Männer diese Vermittlungsangebote ausgeschlagen haben, sinnt sie auf Rache, aber nicht aus blinder Wut, sondern um ihre Ehre zu verteidigen, wie Medea dies in der Schlussszene der Oper ausdrücklich betont.

Die Bühne (Johannes Leiacker), die sich hinter einer Meeresansicht als Vorhangbild auftut, wird dominiert von einem mit einer Spitze in den Zuschauerraum hinein deutenden rechteckigen Spielpodest, das an Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ (1819) gemahnt. Dort vollzieht sich das gesamte Operngeschehen, auch nachdem die gekachelten Wände mit einer Küchenzeile und einem Vorratsregal wegbrechen und den Blick auf die unbehauste und den Elementen ausgelieferte menschliche Existenz freigeben. Vielsagend ist auch das Schlussbild der Stuttgarter Inszenierung, nachdem sich das Meeresbild endgültig gesenkt hat. Vor dem Prospektvorhang liegen dann keine einheimischen Bürger, sondern ausschließlich fremde Migranten wie Medea, Neris und Jason, die sich vor dem Meeresprospekt gleichsam in gestrandete Leichen von Bootsflüchtlingen verwandeln.

Beide Stuttgarter Medea-Inszenierungen bescherten dem Zuschauer, neben den gelungenen Aktualisierungen des Stoffes, großen Kunstgenuss. Im Kleinen Haus begeisterten insbeson-dere Sylvana Krappatsch (Medea), Jason (Benjamin Pauquet) und Kreon (Klaus Rodewald), und im Großen Haus konnte man sich vor allem an den Rolleninterpretationen von Simone Schneider und Matthias Klink erfreuen, die an der Stuttgarter Staatsoper jeweils ihre Rollendebüts als Medea und Jason gaben. Die musikalische Leitung oblag der erst 29-jährigen französischen Dirigentin Marie Jacquot, die insbesondere die Gewitterszene vor dem dritten Akt mitreißend gestaltete. Und die Damen und Herren des Staatsopernchors Stuttgart beeindruckten nicht nur wie gewohnt mit ihrer dramatischen Stimm- und Klangfülle, sondern bestachen zudem durch ihre exquisiten schauspielerischen Fähigkeiten.