Mehr als ein neuer Temeswarer Stadtführer

Getta Neumann geht in ihrer Dokumentation auf Spurensuche

Die Literatur über Temeswar ist um eine wichtige Dokumentation reicher geworden, die zugleich die beachtliche Reihe alter und neuer Stadtführer ergänzt, da es eine Lücke gab. Es ist ein Stadtführer der besonderen Art, gewissermaßen auch ein Vermächtnis der Autorin Getta Neumann an ihre Gemeinschaft: „Pe urmele Timișoarei evreiesti. Mai mult decat un ghid“, Verlag Brumar Temeswar, 2019, 244 Seiten, ISBN 978-606-726-145-5.

Getta Neumann-Herzfeld (Jahrgang 1949) lebt in der Schweiz, sie ist die Tochter des ehemaligen und langjährigen Temeswarer Ober-Rabbiners Dr. Ernest Neumann. Die Autorin ist einem Nachhol-Bedürfnis gerecht geworden und hat in diesem Frühsommer in Temeswar ein Buch vorgelegt, wie es in kommunistischer Zeit nicht hätte veröffentlicht werden können. Es wurde zu einem „Stadtführer“ besonderer Art dank der Kompetenz der Autorin und ihrem Zugang zur Thematik wie auch des immensen Insiderwissens und des Selbst-Erlebten. Als herausragende Wissensträgerin hat sie den unauslöschlichen, mitprägenden Anteil der jüdischen Gemeinde zur Entwicklung dieser Stadt nachvollzogen, die sichtbaren und unsichtbaren Spuren gesucht und beleuchtet. Das ist wichtig für die jüngere Generation, vor allem die vielen Neu-Temeswarer, die kaum Zugang haben zum reichen „Erbgut“ dieser Metropole, in der die historisch gewachsenen ethnischen Gemeinschaften alle zu sehr kleinen Minderheiten geworden sind. Es ist somit auch ein Buch gegen das Vergessen, in dem man aber auch die Verbundenheit der Autorin mit der Gemeinschaft spürt und deren traditionelle Verpflichtung, die Erinnerung weiterzugeben.

Durch die Hinführung zu den nicht auffälligen, weltlichen jüdischen Spuren (z. B. historische Bauten, Architektur) konnte sie die schöpferische Kraft der einst starken Gemeinschaft wie auch diejenige beeindruckender Persönlichkeiten nachzeichnen. Eingebettet ist dies alles in die Darstellung der gewisser-maßen einzigartigen freien Entfaltung der jüdischen Gemeinden der Stadt in allen Lebens- und Wirkungsbereichen weit über ein Jahrhundert hinaus. Im Unterschied zu vielen europäischen Städten mit großen und starken jüdischen Gemeinden - auch in Rumänien - blieb die Temeswarer Judenschaft von Pogromen und dem europäischen Holocaust weitgehend verschont.
Was die „Stadtführung“ lebendig und konkreter macht als andere alte und neue „Stadtführer“, sind die vielen aufgenommenen Erinnerungen, sie „vermenschlichen“ das Sachliche. Eine reiche Auswahl alter und neuer (Farb-)Fotos ergänzt die Spurensuche. 

Die kurze einführende allgemeine Geschichte der Stadt ist gut gerafft und sachlich, ebenso das Kapitel über das vielseitige multikonfessionelle religiöse Leben. Kurz vorgestellt werden – für die heutige junge Generation unabdingbar – die Fest- und Feiertage im Jahreslauf und die oft gestellte Frage „Wer ist Jude?“ wird beantwortet.
Die eigentliche Führung auf den jüdischen Spuren der Stadt beginnt zu Recht mit der Vorstellung der fünf Synagogen, die noch existieren, mit der Darstellung ihrer Geschichte. 

Der jüdische Friedhof

Auch mit dem Kapitel über den jüdischen Friedhof von Temeswar füllt Neumann eine Lücke, weil die bisherigen wissenschaftlichen Versuchsprojekte zu Banater Friedhöfen sich nur mit christlichen Totenruhestätten beschäftigten. Der Beitrag ist eine Hommage an die Altvorderen, die ihrer Gemeinschaft ihr Bestes gegeben haben, und ein ehrendes Zeichen der Zuneigung der Autorin für die teils leider schnell vergessenen Leistungen dieser Temeswarer. Mit seinen rund 14.000 belegten Ruhestätten und 81 Grüften auf dem acht Hektar großen und gut umfriedeten Gottesacker ist auch der Temeswarer jüdische Friedhof ein offenes Lesebuch und Teil der Chronik der Gemeinschaft. Getta Neumann stellt dieses Freilicht-„Archiv“ und Zeugnis eines (Banater) Wohlstandes in den Kontext der jüdischen Bestattungs- und Trauerriten, weist aber auch auf den Wandel in der Gestaltung der Grabsteine hin – diese sollten ursprünglich die sozialen Unterschiede nicht aufzeigen - und auf deren Symbole sowie die Kunst der Steinmetze der Stadt. Zu den Besonderheiten zählt, dass auch der Name des Vaters der Verstorbenen eingemeißelt wurde, für Genealogen heute wertvolle „Funde“. Ursprünglich waren die Inschriften nur in hebräischer Sprache, mit der Zeit wurden sie zweisprachig, viele deutsch-hebräisch, später mehr ungarisch und zuletzt auch rumänisch-hebräisch. Der älteste erhaltene Stein stammt aus dem Jahr 1636 und erinnert auf dem alten Friedhof an einen sephardischen Zuwanderer aus Saloniki. 
Ein besonderes Bauwerk ist die Totenhalle, der das Wohnhaus für den Friedhofsbetreuer und -wächter angegliedert wurde. Wie auf vielen großen traditionsreichen jüdischen Friedhöfen gibt es auch in Temeswar das Grab eines „Wunderrabbis“ (David Oppenheimer), zu dem viele Menschen bis in der neueren Zeit mit ihren Wünschen oder Sorgen pilgerten – Christen inbegriffen. Dass es eine Liste der Ruhestätten inzwischen auch im Internet gibt, ist der kleiner gewordenen Gemeinde hoch anzurechnen und steht als Zeichen gegen das Vergessen wie auch der Ehrfurcht. So wurde der Friedhof zu einer Gedenk- und Ehrenstätte für die Vielen, die heute in aller Welt zerstreut leben. 

Das alte jüdische Carré

Das jüdische Carré war das „Herzstück“ und Zentrum jüdischen Gemeinschaftslebens in der Alt-Stadt, durch die Neumann die Leser anschließend führt. Auch gegenwärtig hat die Gemeinde hier ihren Sitz ganz in der Nähe der einst neuen, 1865 erbauten, innerstädtischen Synagoge, die nach den großangelegten und langjährigen Renovierungen bald wieder ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt werden soll. 
Der „Rundgang“ umfasst zu Beginn das Geviert, in dem die frühen Synagogen (die „deutsche“ und die „spanische“) und der alte Judenhof standen, heute begrenzt von Teilen der Straßen Mărășești, Gheorghe Lazăr, Ungureanu und Eugen von Savoyen. Neumann stellt den baulichen Wandel dar und das jüdische „Innenleben“ in dem zentralen Stadtviertel.

Im weiteren Stadtkern, der Innenstadt, stellt Neumann ein Dutzend historischer bzw. repräsentativer Stadtbauten und deren jüdischen Geschichtsanteil vor, wie beispielsweise das Brück-Haus mit der Apotheke oder das Haus mit den Löwen (auch „Weisz-Palais“) an der anderen Ecke des Domplatzes, die Szana-Bank am Sankt-Georgs-Platz, die bei den Alt-Temeswarern unvergessene Verlags- und Buchhandlung Moravetz an der „schmalen Gasse“, weiter das früheste Temeswarer Museumsgebäude, in dem seit 1952 die Bibliothek der Akademie untergebracht ist, das besondere, einzigartige Jugendstil-Haus des Max Steiner (ehemaliges Miets- und Bankhaus) an der Domplatz-Ecke neben dem serbischen Bischofspalais. 

Viel zeigen und berichten kann die Herausgeberin und Autorin beim „Spaziergang“ über den alten Opern-, heute Victoria-Platz und dem in nächster Umgebung liegenden, frühen Hauptplatz außerhalb der Festung. Sieben repräsentative Paläste säumen den Corso zwischen Oper und Kathedrale, alle mehr oder weniger eng verwoben mit jüdischen Persönlichkeiten der Stadt. Wer weiß heute noch, dass das prachtvolle Löffler-Palais (mit immer noch sichtbaren Einschussspuren vom Dezember 1989) aus dem Jahr 1913 drei Eingänge mit drei Innenhöfen hat sowie 46 Appartements mit 142 Wohnzimmern?

Das israelitische Lyzeum

Es ist sicher nicht übertrieben zu behaupten, dass die Temeswarer Juden auf Schule und Bildung höchsten Wert legten. In diesem Geiste widmet Neumann dem israelitischen Lyzeum ein eigenes Kapitel. Es brachte zahlreiche landesweit und international bekannte Persönlichkeiten hervor. Zudem war es nach 1919 eine sehr wichtige Stätte für die Sprachpflege und zur Festigung der Identität der jungen Generation im Königreich Rumänien. Wie fast alle Banater Lyzeen der Zwischenkriegszeit – beispiels-weise auch das deutsch- katholische – waren die israelitischen Mittelschulen der Stadt – so lange erlaubt – auch für Nicht-Juden offen. Im Eröffnungsjahr waren es in Temeswar immerhin 70 Personen, ein Zeichen für die Wertschätzung der jüdischen Schulen und der Lehrerschaft in der Stadt. Als überregionale Bildungsanstalt wurde dazu ein großes Internatsgebäude errichtet. Ihr Ende erfuhren die Schulen, wie alle konfessionellen im Land, nach 1948 durch die neuen kommunistischen Schulgesetze.
Anschließend an die Bauten dieser Gegend führt die Spurensuche weiter im Innenstadtbereich (im neueren topographischen Sinn) Richtung Südosten, wo zahlreiche Villen vorgestellt werden (Margit-Villa, Kimmel-Villa, Lindner etc ), die nach der Enteignung 1948 vielfach zu öffentlichen Institutionen umgestaltet wurden, wie das Lyzeum „Carmen Sylva“ mit gegenwärtig rund 1500 Schülern. Mehrere Gebäude wurden dem Gesundheitsministerium unterstellt. Damit verbunden ist dann entsprechend das kleine eingefügte Kapitel über jüdische Ärzte in Temeswar nach dem Zweiten Weltkrieg, die fast alle letztendlich ausgewandert sind. Der Anteil der Anwälte und Ärzte war in der Stadt sehr hoch, wie in Rumänien insgesamt. Als Beispiel wird der Zensus aus den 30er Jahren angeführt, als im Land über 3100 jüdische Ärzte (35,4 Prozent) wirkten, im Vergleich zu 569 Deutschen (6,5 Prozent). 

Die „Fabrikstadt“

Die zahlenmäßig stärksten – auch im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl – jüdischen Gemeinden waren die in der „Fabrik“, wo es über den längsten Zeitraum belegt bis 1948 private oder öffentliche israelitische Volksschulen gab. Drei Synagogen für die unterschiedlichen Glaubensrichtungen existierten hier, für viele Kenner der Stadt ist der neue Tempel unweit der alten Bierfabrik baulich bis heute die schönste Synagoge, die leider nicht mehr benutzt wird und nicht besichtigt werden kann. Im Unterschied zur Innenstadt, die über eine Bega-Brücke mit der Fabrikstadt verbunden ist, waren die jüdischen „Fabrukler“ nicht nur Händler und Unternehmer, sondern vor allem kleinere oder größere Fabrikanten. Traditionsreiche und große Wirtschaftsunternehmen bestanden hier bis in die jüngste Nach-Wendezeit, wie ILSA, Wirkwarenfabrik „1. Iunie“, Strumpffabrik, Farben und Lacke etc. So konnte Neumann bei ihrer Führung aus dem Vollen schöpfen und legte dem Buch einen guten, hilfreichen Plan des Stadtteils bei, tragen doch viele Plätze und Straßen jetzt neue Namen. 

Eine Zeile Prachtbauten, richtige Wahrzeichen der modernen Architektur des jüngeren Teils der „Fabrik“ - entlang der Straße von der Innenstadt zum Trajansplatz und dessen Umgebung - stellt die Autorin beispielsweise ausführlich vor, erinnert aber auch an die einfachen jüdischen Bewohner und Häuser in den Seitengassen der Fabrikstadt in Richtung des großen und beliebten „Tandlmark“ (Trödlerwaren-Markt), wo Spuren des konservativeren bzw. auch orthodoxen „Stetl“ ähnlichen Geschäfts-, Alltags- und Glaubenslebens zu finden waren. Für das Jahr 1930 (Zensus in Rumänien) veröffentlicht Neumann dazu ein umfangreiches Verzeichnis jüdischer Unternehmer und Immobilien- oder Kaufhaus-Besitzer im Stadtteilbereich.

Josef- und Elisabeth-Stadt

Über 20 größere Objekte werden bei der Führung durch diese einst vorwiegend (gut)bürgerlichen, breiter angelegten Stadtviertel präsentiert, darunter Baudenkmäler der städtischen Architektur. Die Zahl jüdischer Einwohner war kleiner als in der Fabrik, aber wohlhabender und das Zentrum war die Gegend um die Josefstädter Synagoge und die Marktplätze des Viertels, das den frühesten Bahnhof der Urbe erhalten hatte, den Josefstädter Bahnhof, der zum Hauptbahnhof wurde. Dass unmittelbar hinter dem Bahnknotenpunkt die erste richtige Temeswarer Fußballarena entstand, das spätere CFR-Stadion, hat mit jüdischen Persönlichkeiten wie auch international bekannten jüdischen Fußballspielern zu tun. 

Einige Industrie-Unternehmen waren von überregionaler Bedeutung, so die Zündholzfabrik, die große Zigarettenfabrik, die erste Spiritus-Fabrik, „Kandia“-Süßwaren, aber auch die Hut- oder Bänderfabrik. In diesem nobleren Viertel wirkte das Zentrum der Zionisten, hatte die Landesvereinigung der Juden Siebenbürgens und des Banats in der Zwischenkriegszeit ihren Sitz wie auch die Zweigstelle der Frauen des internationalen Vereins der Zionisten. 
Zu einem guten Stadtführer gehört ein helfender und erläuternder Anhang. Dieser umfasst nicht nur die Liste der am häufigsten im Buch genannten Persönlichkeiten, sondern eine Auswahl knapper biographischer Angaben zusätzlich, ausführlicher zu jüdischen Architekten und Bauunternehmern. Ebenso ist eine weiterführende Bibliographie geboten. 

Wichtig sind die praktischen Hinweise zur gegenwärtigen Jüdischen Gemeinde Temeswar, der die junge Publizistin Dr. Luciana Friedmann vorsteht. Ihren Sitz (mit Festsaal und Bewirtschaftung) hat die Gemeinde an der Gh.-Lazăr-Str. Nr. 5, aber mit Eingang von der Mărășești-Str. 10. Für Besuche des jüdischen Friedhofs an der alten Lippaer Straße kann der Pfleger und Wächter erreicht werden unter der Mobiltelefonnummer 0040-757 364187, Besuchszeiten sind von Dienstag bis einschließlich Sonntag, außer an Samstagen und an Feiertagen.
Ein Schmankerl als Zugabe gibt es auch noch im Anhang vor dem Innenstadt-Faltplan auf der Innenseite des Umschlags: traditionelle jüdische Koch- und Backrezepte (Seiten 218-219).
Insgesamt ein begrüßenswertes Buch für die kommende europäische Kulturhauptstadt. Eine englische Übersetzung ist geplant.