Melancholie zwischen Moral und Morast

Ungarische Literaten bewältigen in ihren Werken Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen

Péter Nádas Foto: Barna Burger

György Dalos Foto: Ronny Marzok

László Krasznahorkai Foto: Doris Poklekowski

In Ungarn herrscht traditionell ein oft tragischer Hang zur Melancholie. Das schlägt sich nicht nur in hohen Selbstmordraten, sondern auch in der zeitgenössischen Belletristik nieder. Ungarische Schriftsteller bewältigen in ihrem Œuvre regelmäßig voller Schwermut Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Viele Werke bieten so nicht nur eine ironische Selbstinterpretation, sondern werden auch zu einer existenziellen Radiografie der eigenen Zeitgeschichte. In einem trotz großer Themen bisweilen fast schon pragmatischen Plauderton dringen Autoren wie György Dalos (Jahrgang 1943), László Krasznahorkai (1954) und Péter Nádas (1942) dabei in die tiefen gesellschaftlichen Wunden des 20. Jahrhunderts ein, die zuerst Antisemitismus und Holocaust, später der Kommunismus in Menschen und Gesellschaft schlugen.

Die Protagonisten dieser Autoren, meist dezidierte Antihelden und Verlierer der Systeme, schmuggeln sich schelmisch durch Epochen, Umbrüche und Umstände – oder sie scheitern gleich auf ganzer Linie. Es sind paradigmatisch gebrochene Lebensläufe, von denen die Geschichtsbücher selten berichten, auch wenn die geschilderten Abstürze und Humanapokalypsen historischen Kontexten geschuldet sind.

„Der Fall des Ökonomen“ von György Dalos

Zum Beispiel der neue Roman „Der Fall des Ökonomen“ von György Dalos. Der „Ökonom“ ist Gábor Kolozs aus Budapest. Anfang der 60er Jahre als hoffnungsvoller Stipendiat der Ökonomie in Moskau gestartet, wird sein Leben zur biografischen Achterbahn. Schon vor der Wende schlittert er beruflich und persönlich ins Aus, auch wenn er den „Boheme- und Biedermeiersozialismus“ seines Landes durchaus schätzt. Er wird diffamiert und entlassen, seine Ehe zerbricht an der Enge des Systems.

Gábors Scheitern vor 1989 wird zur Chance danach: Er kommt im postrevolutionären Ungarn als vermeintlicher Regimekritiker zu politischen Posten, Privilegien und Prestige, genießt Status und Dienstreisen, verliert aber im Zuge des nächsten Machtwechsels alles rasch wieder und lebt schließlich von der monatlichen Rente einer Schweizer Stiftung von 300 Franken für Überlebende des Holocaust, die sein jüdischer Vater bezieht. Er pflegt Beziehungen, die nichts bringen, verpasst den Anschluss, weil er nicht opportunistisch genug ist, und wird ein klassischer Revolutionsverlierer, der sich nicht den neuen – oft alten – herrschenden Eliten und Garden anschließt.
Zwischen 1995 und 2001 schreibt er vergeblich Bewerbungen auf rund vierhundert Stellen und überlebt doch nur aufgrund der Holocaust-Rente seines Vaters. Als der Vater stirbt, stellt er seine Moral als „werteorientierter Mensch“ hintan, verschafft den Leichnam in weite Ferne und meldet den Tod des Verblichenen nirgends, der sein eigenes Leben gefährdet. Ein Versteckspiel sondergleichen über mehrere Jahre beginnt, das erst aufgelöst wird, als sich eine Journalistin zum 100. Geburtstag des Holocaust-Überlebenden für ein Interview ankündigt.

Der Wahlberliner György Dalos zeichnet die Figuren und Zustände seines Heimatlandes vor und nach 1989 einmal mehr mit feinster Ironie nach. Die Zeitgeschichte wird zur scheinbar süffisant lächelnden Bühne, auf der sich alle Irrungen und Wirrungen abspielen. Dalos beherrscht es meisterhaft, das Leben selbst als menschlicher Einwirkung oft entzogene tragikomische Affäre darzustellen. Der Leser schwankt zwischen Neid und Mitleid mit dem Antihelden und seiner Überlebenskunst. Diese melancholischen Miniaturen misslingenden Lebens markiert auch der doppeldeutige Titel: Der „Fall“ des Ökonomen benennt gleichermaßen diesen Kasus wie dessen Ergebnis: den tiefen Absturz.

„Satanstango“ von László Krasznahorkai

In eine ganz andere Welt versetzt László Krasznahorkai seine Leser mit „Satanstango“. Dieser Roman spielt in der Endphase des Kommunismus in einem von Gott verlassenen und von der Welt vergessenen Dorf im östlichen Ungarn kurz vor der rumänischen Grenze. Hier wird das Ende jeder Gesellschaft beschrieben, wenn einen Roman lang der Wirtsraum der Dorfkneipe zu Lebensraum, Lebensinhalt und Lebensmitte der Dorfbewohner wird, zum Wohnzimmer heruntergekommener Männer wie Frauen.

Das hier vorgeführte Kaff mit seinen hoffnungs- und perspektivlosen Alkoholikern ist trotz aller Überzeichnungen nicht einmal Fiktion, sondern gleicht einer Realsatire. Solche verrotteten Dörfer gab es vor 1989, abgehängt vom real existierenden Sozialismus der Trabantenstädte. Und noch heute lässt sich manches von der Entwicklung nach 1989 überrumpelte Nest dieser Art zwischen Ostungarn, dem Banat, der südlichen Walachei und manchen bulgarischen Landstrichen finden: überaltert, arm, unterentwickelt und ohne Aussicht auf Aufschwung.

Krasznahorkais Roman spielt zum größten Teil in dieser Kneipe und schildert das existenzielle Vor-sich-hin-Saufen der Dorfbewohner. Der Fußboden dieser Saufbedürfnisanstalt ist genauso vermodert wie die Dorfstraßen von Matsch und Morast triefen. Die Leere des Lebens wird mit Wein, Schnaps, Bier und bindungsfreiem Triebleben betäubt. Alle tanzen mit bei diesem „Satanstango“. Früher waren die Teilnehmer der täglichen Saufgelage Arzt, Lehrer, Schmied und stolze Ungarn, jetzt sind alle von Beruf und Nationalität Trinker.

„Wenn nur der Wein langt“, ist die Hauptsorge der Protagonisten, die auf die Rückkehr von Irimiás aus Budapest warten. Dieser durch Karriere verlorene Sohn des Dorfes verspricht viel, geriert sich als Prophet, ist aber vor allem ein Polizeispitzel und Symbol für die letzten Überwachungsreflexe des maroden Systems, das gerade seinen Sonnenuntergang erlebt. Nicht einmal der Tod eines Kindes unterbricht den Kreislauf der besinnungslosen Selbstzerstörung. Der 1994 gedrehte Film zu diesem Buch hat eine Länge von 450 Minuten und zählt zu den längsten Kinofilmen aller Zeiten. Er ist in Schwarzweiß gedreht, was das Ambiente dieses bizarren Panoptikums verfallender Personen und Landschaften noch nachdrücklicher einschärft. 

„Ende eines Familienromans“ von Péter Nádas

Ein höchst intensives, wenngleich schwer lesbares Werk bietet Péter Nádas mit „Ende eines Familienromans“. Die Geschichte spielt im Ungarn der 50er Jahre. Wobei die Rahmenhandlung kunstvoll verwoben ist mit langen Erzählungen zum Mythos des jüdischen Volkes. Ein Junge erfährt von seinem jüdischen Großvater den „Traum des Gelobten Landes von Kanaan“. Die gesamte Erzählperspektive ist die des kleinen Jungen, der seinem Großvater lauscht und die zunehmenden Zwänge des Systems und dessen Auswirkungen auf die Familie schon im Dorf erlebt.

Weisheit und Widerstand wechseln sich in den Reden des Großvaters ab. Der Antisemitismus aller Zeiten wird zur allzu real erlittenen Gewissheit darüber, dass auf Erden kein Gelobtes Land zu finden ist: „Die Unseligen. Sie wissen es nicht besser. Sie wissen nicht, dass man das Glück nicht draußen, sondern dass man es drinnen suchen muss. Drinnen! Verstehst du? In dir selbst musst du es finden, das Glück.“ Die zweitausendjährige Leidensgeschichte des Judentums wird zum „Familienroman“, der dadurch endet, dass der Vater des Jungen selbst zum Parteioffizier eines Unrechtsregimes geworden ist. Dessen Menschenverachtung erlebt der Junge schließlich in einem Umerziehungslager, in das er gesteckt wird.

Drei bedeutende ungarische Schriftsteller, drei große Romane voll Ironie, irrwitziger Szenen, schrägen und skurrilen Typen, der dritte eher als Drama angelegt. Sie entwickeln ihre Themen vor dem Kontrast magyarischer Melancholie zwischen Moral und Morast und zeichnen Bilder eines meist sinnlosen Lebens von Menschen, denen das Schicksal, nicht nur aus eigener Schuld und persönlichem Versagen, die schauerlichen Schrecknisse vorsetzt, die sie zu Fall bringen.