„Melodien, wie schöner nicht geträumt werden können“

Wiederaufnahme von Bellinis „Norma“ in der Stuttgarter Staatsoper

Derzeit sind in der Stuttgarter Staatsoper zwei Hauptwerke des romantischen Opernkomponisten und Meisters des Belcanto-Stils Vincenzo Bellini zu sehen und zu hören, die beide im Jahre 1831 ihre Uraufführung erlebten: die Oper „La Sonnambula“ (Die Nachtwandlerin), die in Stuttgart im Januar dieses Jahres Premiere feiern konnte, und die Oper „Norma“, die bereits im Jahre 2002 am Stuttgarter Großen Haus inszeniert wurde, Ende 2011 wieder in den dortigen Opernspielplan Aufnahme fand und auch in der Spielzeit 2012/2013 wieder in Stuttgart zu genießen sein wird.

Beide Opern, obwohl ihre Premieren ein Dezennium auseinander liegen, wurden von demselben Kernteam auf die Stuttgarter Opernbühne gebracht: von Jossi Wieler, seit Beginn der laufenden Spielzeit Intendant der Stuttgarter Staatsoper, in Zusammenarbeit mit Sergio Morabito, der bereits seit 1993 mit Jossi Wieler gemeinsam inszeniert und dramaturgisch kooperiert, und mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock, die ebenfalls auf zahlreiche gemeinsame Projekte mit Wieler und Morabito zurückblicken kann.

Mit Anna Viebrocks Bühnenbild zur Oper „Norma“, die am vergangenen Ostermontag zum letzten Mal in dieser Spielzeit aufgeführt wurde, wird die historische Handlung aus der Zeit des besetzten Gallien während des Römischen Reiches in die Zeit des okkupierten Frankreich während des Dritten Reiches gerückt. Druiden, Barden, Sehern, gallische Krieger und Soldaten werden durch diese geschichtliche Rückung zu Mitgliedern der Résistance, die einen heruntergekommenen Innenhof für ihre konspirativen Treffen nutzen. Der schmutziggraue Lichthof wird durch eine hölzerne Schranke, die die Vorder- von der Hinterbühne trennt, zugleich zu einem religiösen und kirchlichen Raum, in dem ein Lettner die Laien von den Priestern und Geistlichen sondert.

Darüber hinaus symbolisiert diese Chorschranke das Geheimnis der Priesterin Norma, die öffentlich Keuschheit gelobt, aber privat und insgeheim zwei Kinder geboren hat, deren Vater kein anderer ist als Pollione, der Chef der feindlichen Besatzungsmacht. Die Doppelung der Handlung in eine religiöse Staatsaffäre und eine private Liebesaffäre macht die Tragik der Opernhandlung aus, wie sie zugleich dem Regieteam nicht selten Gelegenheit bietet, aus der Fallhöhe von der öffentlichen Haupt- und Staatsaktion zum privaten Eifersuchtsdrama parodistisches Kapital zu schlagen, etwa wenn die junge Irminsul-Priesterin Adalgisa den donjuanesken und als Italian Lover inszenierten Pollione verzweifelt mit Fäusten traktiert, weil dessen Untreue Norma gegenüber ihre eigene Liebe zu ihm unmöglich macht. Zu diesen bühnenbildnerischen Regieeinfällen zählt auch die Auslösung eines Feueralarms durch die Druidin Norma, sinnigerweise bevor sie – im Gesangstext – den sakralen Scheiterhaufen besteigt, der – in der Bühnenhandlung – freilich durch eine profane Pistole ersetzt wird.

So wie Bellini sich in seiner Belcanto-Auffassung von dem manieriert-artifiziellen „Canto Fiorito“, dem so genannten verzierten Gesang seiner Vorgänger, insbesondere vom brillant-virtuosen Rossini-Stil, abgewandt und sich in Richtung auf eine wortbewusste, expressiv-romantische Ausdruckshaltung hin entwickelt hat, so folgt auch die Inszenierung durch Wieler und Morabito minutiös dem Text, der aus der Feder des Librettisten Felice Romani stammt, gerade weil Bellini seine Melodien aus dem Text, aus der jeweiligen Figur, aus ihrer Leidenschaft und ihren Zweifeln, aus ihren Gefühlen und ihrer Tragik erschaffen und entfaltet hat.

Die „melodie lunghe, lunghe, lunghe“, die überlangen Melodien, die Verdi an Bellini bewundernd hervorgehoben hat, folgen dabei den inneren seelischen Bewegungen der Sänger, die sich in der Stuttgarter Inszenierung auch immer in der Regiearbeit widerspiegeln. Die Musik gebietet dabei sowohl über das monumentale Bühnengeschehen, wie den Auftritt der Chöre, als auch über minimalistische Bühnenvorgänge, wie eine bloße Gesichtswendung der Titelheldin.

Richard Wagner, der Bellinis „Norma“ als dessen „gelungenste Komposition“ bezeichnet hat, wird von seiner Frau Cosima in einer Tagebucheintragung aus dem Jahre 1872 mit der Bemerkung wiedergegeben, dass „Bellini solche Melodien gehabt, wie schöner nicht geträumt werden können.“ Der Gesang, die sensible und fein austarierte Schaffung eines stimmlich-stimmigen Seelengemäldes, das sich in seiner Gänze den Passionen der Protagonisten widmet, ist denn auch die eigentliche Hauptperson der Bellinischen Opern und insbesondere seiner Oper „Norma“. Zu denken ist hierbei nicht nur an die berühmten Arien Normas wie „Casta Diva“ (Keusche Göttin), sondern insbesondere auch an die Duette Normas mit Adalgisa, vor allem an jene Passagen ohne Instrumentalbegleitung, die den reinen Klang der menschlichen Stimme in seiner Einfachheit, die an die Seele rührt, erstrahlen lassen.

Diesen reinen Gesang in den Mittelpunkt des Bühnengeschehens gestellt zu haben, ist denn auch das Verdienst dieser Stuttgarter Inszenierung, bei der zuallererst die sängerische Leistung der Protagonistinnen Norma (Catherine Naglestad) und Adalgisa (Marina Prudenskaja), aber auch das stimmliche Können der Darsteller von Pollione (Rafael Rojas) und Oroveso (Attila Jun) hervorgehoben zu werden verdienen. Die stimmgewaltigen Chöre (Einstudierung: Michael Alber) unterstützen auf ihre Weise diesen reinen Gesang ebenso wie das von Ivan Anguélov geleitete Orchester, das martialischer Militärmarschmusik ebenso fähig ist wie beseligt-ätherischer Erinnerungsklänge. Der tosende Schlussbeifall im vollbesetzten Stuttgarter Großen Haus war dabei gewiss nicht nur als Applaus für den gelungenen Abend zu verstehen, sondern wohl auch als Ausdruck der Vorfreude zu werten, Bellinis „Norma“ in der nächsten Spielzeit wieder und von Neuem in Stuttgart erleben und genießen zu können.