Mit der Kamera auf dem Kopf

„Déjà Vu“ von Dan Chişu seit Kurzem in den rumänischen Kinos

Ioana Flora in „Déjà Vu“

Experimentalfilme haben im rumänischen Kino Seltenheitswert, vielleicht weil es zum Wesen von Experimenten gehört, dass sie scheitern können. Der neue, vor Kurzem in die rumänischen Kinos gekommene, eineinviertelstündige Spielfilm „Déjà Vu“ von Dan Chişu ist solch ein kinematografisches Experiment, das jedoch als rundum gelungen bezeichnet werden kann.

Gewagt an diesem Film ist in erster Linie die filmische Erzähltechnik: die durchgängig verwendete subjektive Kameraeinstellung. Wie bei Aufnahmen mit der Handkamera schwankt das Bild in „Déjà Vu“ und vermittelt dadurch den Eindruck permanenter Bewegtheit, mit dem Unterschied, dass der Hauptdarsteller dieses Films die Kamera auf dem Kopf trägt. Alles ist im Fluss, alles dreht sich um den Protagonisten, von dem man nur die Hände, die Füße und ausschnitthaft andere Körperpartien, nie aber das Gesicht sieht. Bewusst versagt sich das Kameraauge den Blick in den Spiegel, selbst zuhause im Badezimmer.

Intensiviert wird Dan Chi{us Filmexperiment noch dadurch, dass der Regisseur die Filmhandlung, wenn man von den  Déjà-vu-Rückblenden einmal absieht, in einen einzigen Tag zusammendrängt. Der Drehbuchautor Dan Chişu reflektiert dieses Kokettieren mit der real verfließenden Zeit, mit dem Leben in Echtzeit bewusst im Film selbst, indem er seine Hauptdarsteller über den amerikanischen Regisseur und Produzenten Ridley Scott und dessen Dokumentarfilmprojekt „Life in a Day“ reden lässt, bei dem der ‚Filmplot’ aus über 80.000 YouTube-Videos, die alle weltweit an einem bestimmten Tag des Jahres 2010 aufgenommen wurden, montiert ist.

Das in „Déjà Vu“ mit dem Smartphone im Auto gedrehte Video spiegelt dieses Spiel mit der Echtzeit wieder, bei dem das Leben selbst an die Grenze des Déjà-vu gerät.
Die Filmhandlung setzt mit dem Erwachen des männlichen Protagonisten, des 55-jährigen Mihai, ein, der seine Geliebte Tania erstmals zu sich nach Hause in seine Bukarester Villa gebracht und mit ihr dort übernachtet hat, während seine Ehefrau Valeria, von der sich Mihai endgültig trennen möchte, seit geraumer Zeit in ihrer luxuriösen Zweitvilla in Izvorani, etwa 40 km nördlich von Bukarest, am Snagov-See lebt. Am Frühstückstisch trifft er auf die rauchende und übernächtigte Tania, die den Tränen nahe ist. Sie hat im fremden Ehebett keinen Schlaf finden können, fühlt sich höchst unwohl in einem Ambiente, in dem die Präsenz von Mihais Ehefrau immer noch deutlich spürbar ist, außerdem wird sie von Mihais Mutter, die in einem Nebengebäude des Anwesens wohnt, durchs Fenster beäugt. Das Gespräch dreht sich um das einzige Vorhaben dieses Tages: die gemeinsame Fahrt zu Valeria und den dort endlich zu ziehenden Schlussstrich unter Mihais gescheiterte Ehe.

Dass die bevorstehende endgültige Trennung des Ehepaares so ausgemacht aber nicht ist, zeigen die zahlreichen filmischen Rückblenden, die unwillkürliche Erinnerungen Mihais und Flashbacks früherer Gefühlszustände filmisch in Szene setzen. Beim Verlassen der Bukarester Villa sieht der Zuschauer plötzlich an Stelle der sommerlich gekleideten Tania die winterlich eingemummte Valeria durch den Schnee stapfen. Den ganzen Film über wiederholt sich dieser abrupte Wechsel von Sommer und Winter, von Gegenwart und Vergangenheit, von neuer und alter Liebe und symbolisiert so das Hin-und-her-Gerissensein Mihais zwischen den beiden Frauen. Selbst eine polizeiliche Radarkontrolle unweit des Hauses der Freien Presse lässt die abwesende Ehefrau ins Leben der jung Verliebten einbrechen: Mihai wird just vor einem Plakat zum Halten aufgefordert, das seine Gattin Valeria, einen bekannten TV-Star, zeigt, und der Polizist verzichtet auf die Anzeige wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, weil er in Mihai den Ehemann der berühmten Fernsehgestalt erkannt hat.

Auf der Fahrt in Richtung Ploieşti, an den Flughäfen von Băneasa und Otopeni vorbei, dreht sich das Gespräch, das zwischen Weinen und Lachen, Verzweiflung und Hoffnung, Aggression und Zärtlichkeit, Angst und Zuversicht hin und her schwankt, offen oder versteckt immer um die Zukunft der gemeinsamen Liebesbeziehung. Bei der Ankunft in Izvorani nimmt die Handlung jedoch plötzlich eine unerwartete Wendung. In die Villa ist eingebrochen worden, alles ist durchwühlt, die Ehefrau ist nicht da, stattdessen sind die beiden Diebe noch im Haus, die dann übers Dach in Richtung See fliehen, wo ihr Motorboot an einem Steg angelegt hat.

Mihai verfolgt die beiden und springt ihnen sogar ins Wasser nach. Nun tritt zu allem Überfluss auch noch die Ehefrau Valeria auf, die wenig später wegen des schmerzlichen Verlusts ihrer Juwelen oder auch wegen der bloßen Präsenz von Mihais Geliebter Tania einen Schwächeanfall erleidet und ins Krankenhaus gebracht zu werden verlangt. Auf dem Weg dorthin holt Mihai Tania, die zuvor zu Fuß Reißaus genommen hatte, in seinen Mercedes und fährt am Ende des Films mit seinen zwei Lieben, der ehemaligen und der neuen, der Abendsonne entgegen.
Spannend an diesem Film ist weniger die äußere Handlung, die bis zu einem gewissen Grade alltäglicher Beliebigkeit unterliegt, sondern die innere Dramatik, die vor allem in den Dialogen zum Ausdruck kommt.

Insbesondere trägt Ioana Flora, die ihren Rollenpart selbst mit verfasst hat, das lebendige Filmgeschehen, indem sie das gesamte Gefühlsspektrum von den höchsten Höhen bis zu den tiefsten Tiefen ausschreitet, es sprachlich oszillieren lässt und außerdem dabei die Gefühlswelt Mihais zum Schwingen bringt. Dass der Regisseur die dramatische Handlung gegen Ende des Films fast in eine Farce kippen lässt, ist zu bedauern, angesichts der Unauflösbarkeit des herrschenden Gefühlswirrwarrs aber zu entschuldigen. Ein echter theatralischer Showdown zwischen den beiden exzellenten Schauspielerinnen Ioana Flora (Tania) und Mirela Oprişor (Valeria) hätte dem Film freilich die Krone aufsetzen können.

Besonders beeindruckt der Film „Déjà Vu“ zudem durch seine exzellente Technik. Die bildkräftige Inszenierung des Tagesbeginns (Bild: Gheorghe Andrei, Dan Chişu) – zunächst die totale Dunkelheit, dann das Aufleuchten des Smartphones mit Weckfunktion, dann das Hinzutreten weiterer Licht- und Geräuschquellen wie zum Beispiel des Fernsehgeräts – zählt gewiss zu den Höhepunkten des Films, ebenso die durchgängig Spannung und untergründig Irritation erzeugende Handhabung des Filmsounds (Ton: Laura Lăzărescu, Marius Elefterache), die zur hohen Qualität des sehenswerten Streifens entschieden beiträgt. Es scheint, als gelänge es dem Protagonisten dieses Filmexperiments, mit der Kamera auf dem Kopf direkt in den Kopf des Zuschauers zu gelangen und diesen in die Unmittelbarkeit seiner Begegnungen zu führen, wie sie von konventionell gedrehten Filmen gemeinhin selten erzeugt wird.