„Persischstunden“

Holocaust-Filmdrama von Vadim Perelman in den rumänischen Kinos

Der Spielfilm „Persischstunden“ des ukrainisch-amerikanischen Filmemachers Vadim Perelman feierte am 22. Februar 2020 bei den 70. Internationalen Filmfestspielen Berlin im Rahmen der Sektion „Berlin Special Gala“ seine Weltpremiere. Der internationale englischsprachige Titel „Persian Lessons“ des in Deutschland, Russland und Weißrussland produzierten Films basiert auf einer literarischen Vorlage: nicht auf dem ähnlich betitelten Briefroman „Persian Letters“ des Barons von Montesquieu, sondern auf der Erzählung „Erfindung einer Sprache“ des 1931 in Berlin geborenen und heute 90-jährigen Schriftstellers, Drehbuchautors und Filmregisseurs Wolfgang Kohlhaase.

Der 127-minütige Film beginnt mit einer Szene im besetzten Frankreich des Jahres 1942. Der belgische Jude Gilles wird auf der Flucht von SS-Soldaten aufgegriffen und soll anschließend zusammen mit anderen Juden im Wald erschossen werden. Zwei Zufälle retten ihm zunächst das Leben: dass er im Besitz eines persischen Buches ist, das seine Notlüge stützt, kein Jude, sondern ein Perser zu sein, und dass der SS-Hauptsturmführer des KZs, dem das Exekutionskommando unterstellt ist, schon seit Längerem einen Perser sucht, weil er privat die persische Sprache erlernen möchte. Ins KZ verbracht steht Gilles dann vor der unmöglich zu bewältigenden Aufgabe, die Fiktion seines Persertums aufrechtzuerhalten, zumal er, der zwar das Deutsche als Fremdsprache beherrscht, von Farsi keine Ahnung hat.
Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als eine neue Sprache zu erfinden, die persisch klingt, und diese Kunstsprache gegen den Argwohn der SS-Soldaten zu verteidigen. Da zu Gilles’ Dienstaufgaben sowohl die Führung der Namenslisten sämtlicher KZ-Häftlinge wie auch die tägliche Essensausgabe gehört, nimmt er Zuflucht zu folgendem mnemotechnischen Kunstgriff. Er formt aus den Namen der Häftlinge fiktive Vokabeln und memoriert diese täglich, wenn er nämlich den Namensträgern und Vokabelpaten beim Essenfassen von Angesicht zu Angesicht gegenübertritt. Aus dem Namen eines ungeduldigen Häftlings formt er das Wort „Geduld“ und aus dem Namen eines hoffnungslosen die Vokabel „Hoffnung“.

Die Spannung des Films wird durch das jederzeit drohende Auffliegen von Gilles’ Sprach- und Identitätsschwindel permanent aufrechterhalten und teilweise bis zum kaum mehr Erträglichen gesteigert. Einer der Höhepunkte ist dabei das Auftreten eines echten Persers, der allerdings eher wie ein Inder aussieht und als abgeschossener Pilot der RAF ins KZ verbracht wurde, dort aber von einem italienischen Mitgefangenen getötet wird, noch bevor er sein Persischsein unter Beweis stellen kann. Durch diesen Mord wird Gilles’ falsches Spiel vor der Aufdeckung bewahrt, weil jener dem Bruder des italienischen Mörders zuvor das Leben gerettet hatte. Auch der Argwohn des SS-Rottenführers Beyer, der sich schließlich in blanken Hass verwandelt, stellt bis zum Ende des Films eine ständige Bedrohung für Gilles dar, der nur deshalb überleben kann, weil er unter dem besonderen Schutz des SS-Hauptsturmführers Koch steht, welcher nicht nur so heißt, sondern von Beruf auch Koch ist und als solcher nach Kriegsende ein Restaurant in Teheran eröffnen möchte, wo er seinen widerständlerischen und vor den Nazis geflüchteten Bruder vermutet. Klaus Koch, Persischschüler und Duzfreund von Gilles, rettet seinem jüdischen Lehrer dabei mehrfach das Leben, indem er ihn etwa bei Bauern zeitweise Unterschlupf finden lässt, ihn einmal aus der Kohorte eines Todesmarsches herausholt und ihn am Ende sogar höchstpersönlich aus dem KZ führt, dessen Auflösung wegen des Nahens der alliierten Truppen unmittelbar bevorsteht und dessen verbliebene Häftlinge samt und sonders liquidiert werden.

Die geniale Pointe des Filmes wie seiner literarischen Vorlage ist, dass Gilles’ erfundene Sprache am Ende zum Instrument der Wahrheit und der Gerechtigkeit wie auch des Gedächtnisses und der Erinnerung wird. Sie entlarvt nämlich nicht nur den SS-Offizier Klaus Koch, der es tatsächlich mit dem Flugzeug bis nach Teheran geschafft hat, dort aber bei der Einreise mit seinem unverständlichen Kauderwelsch, das er für Persisch hält, Verdacht erregt und deshalb festgenommen wird. Gilles’ Kunstsprache bewahrt gleichzeitig auch die Erinnerung an die vernichteten Juden, deren Gedächtnis die Nationalsozialisten auszulöschen beabsichtigten. So zeigt Perelmans Film etwa die Vernichtung der Personalakten sämtlicher Häftlinge kurz vor Auflösung des KZs. Gilles’ Kunstsprache erfüllt für seine Mitgefangenen genau dieselbe Funktion, welche die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem („Denkmal und Name“) für sämtliche Opfer des Holocaust mit dem Jesaja-Wort proklamiert: „Denen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben (…). Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll.“ (Jes 56, 5) So kann sich der überlebende Gilles während seiner Internierung in einem alliierten Durchgangslager mit Hilfe seiner Kunstsprache und seiner Mnemotechnik über 2800 Namen von Holocaust-Opfern in Erinnerung rufen und so dem Gedächtnis der Menschheit wiedergeben.

Perelmans Film bringt aber nicht nur die Todesmaschinerie eines nationalsozialistischen Vernichtungslagers zur Anschauung, sondern zeigt zugleich in einer Fülle von Nebenhandlungen, wie die Angehörigen der SS, die Täter also, sich das brutale Machtgefüge zunutze machen, um jeweils persönliche Vorteile zu erringen. So denunziert eine Küchenaufseherin ihre Kollegin, um sie als Konkurrentin in Liebesdingen auszuschalten, und Rottenführer Beyer bringt Hauptsturmführer Koch in Misskredit, um sich beim Kommandanten des Lagers einzuschmeicheln. Sadismus und Vernichtungswillen herrscht also genauso zwischen Tätern und Opfern wie auch zwischen den Tätern selbst.

Grandios sind in diesem Film, in dem hauptsächlich Deutsch gesprochen wird (wenig Französisch und noch weniger Italienisch), die schauspielerischen Leistungen, nicht nur diejenigen der beiden Protagonisten Gilles (Nahuel Pérez Biscayart) und Klaus (Lars Eidinger). Vor allem letzterer zieht in diesem Film alle sprachlichen und mimischen Register: wenn er als Vorgesetzter eine Untergebene he-runtermacht, wenn er Gilles von seinem ihn verachtenden Bruder erzählt, wenn er von seiner Nachkriegsexistenz in Teheran träumt, wenn er ein selbst gemachtes Gedicht in (vermeintlich) persischer Sprache vorträgt, wenn er in einem Anfall von Raserei seinen Freund Gilles verprügelt, wenn er gegenüber seinen Offizierskollegen die Contenance wahrt und sich in emotionalen Ausnahmezuständen dann doch durch ein leichtes Stottern als psychisch höchst labiler Charakter erweist. Eidingers Agieren demonstriert, gerade auch in seiner Vielfalt und Diversität, höchstes schauspielerisches Niveau. Nicht von ungefähr gehört Lars Eidinger schon seit Längerem zur ersten Garde der deutschen Film-, Fernseh- und Theaterschauspieler.

Aber auch zahlreiche Schauspielerinnen und Schauspieler in den Nebenrollen dieses Films ziehen den Zuschauer in ihren Bann: Jonas Nay, der das sadistische Machtgebaren des SS-Rottenführers Max Beyer perfekt verkörpert; Leonie Benesch, die als Küchenaufseherin Elsa gnadenlos ihre egoistischen Inte-ressen verfolgt und als weibliches Pendant von Max gelten kann, mit dem sie auch eine auf gegenseitigem Nutznießen basierende Freundschaft verbindet; und nicht zuletzt der Schauspieler Alexander Beyer, der den Lagerkommandanten im Range eines SS-Standartenführers verkörpert und dabei seine Minderwertigkeitsgefühle sadistisch ausagiert, aber vor denjenigen kuscht, die ihm eventuell gefährlich werden könnten.

So entfaltet der Film das Panorama einer diktatorischen Gewaltherrschaft, die sich nicht nur in der großen Politik und in der Weltgeschichte manifestiert, sondern die bis ins Kleinste den sozialen Alltag und den Charakter derjenigen bestimmt, die auch als Täter immer der Gefahr ausgesetzt sind, zu Opfern gemacht zu werden. Im Zentrum steht aber das Gedenken an die wahren Opfer des Holocaust, die in Perelmans Filmdrama, dem Beitrag Weißrusslands zur Oscarverleihung 2021 für den besten internationalen Film, nicht als gesichtslose Statisten, sondern als gedemütigte und leidende Individuen in all ihrer Verletzlichkeit und ihrem Ausgeliefertsein sichtbar werden.