Pici – eine Überlebende des Holocaust

Nicht alle Geschichten wurden bereits erzählt

Das Werk ist im Marta-Press Verlag in Hamburg erschienen und erhältlich.

Großkarol/Carei in Nordsiebenbürgen – der Heimatort von Pici und ein Symbol der Befreiung. Die Stadt war die letzte, welche von den Nazis befreit wurde. In dem Buch „Pici“ erinnert Elisabeth Scheer, genannt Pici, sich, wie sie, geborgen in einer jüdischen Familie, in Großkarol aufgewachsen ist, bis die Nationalsozialisten ihr Leben mit Leid und Trauer füllten. Mehr als ein Jahr lang erlebte Pici in den Ghettos und Konzentrationslagern, wie unmenschlich Menschen sein können. Ihre Erlebnisse erzählte sie ihrem Enkel, Robert Scheer, Schriftsteller und Autor des Buches, und trug diese in einer ungarischen Erstfassung des Werkes zusammen. Robert übersetzte die Geschichte seiner Großmutter und macht sie damit für andere zugänglich – dabei wird die Autobiografie zu einem Generationsgespräch zwischen ihm und Pici.

Vor nicht mal einem Jahrhundert hat Deutschland versucht, die Juden und Roma auszulöschen. Und abermals erschüttert ein Rechtsruck ganz Europa. Haben wir etwa mit dem Verschwinden unserer Großeltern auch unsere Geschichte vergessen? Für die nachkommenden Generationen wird der Zweite Weltkrieg immer abstrakter. Bald wird er nur noch aus Zahlen und Fakten – losgelöst von jeglicher Anteilnahme – bestehen. Gerüchte werden laut, dass an der türkischen Grenze auf Flüchtlinge geschossen wird und Europa schweigt dazu. Wie es scheint, müssen uns die damaligen Gräueltaten wieder ins Gedächtnis gerufen werden, damit wir wieder Mitgefühl und Solidarität zeigen. Und deshalb ist es gut, dass nach so vielen Jahren wieder ein Buch über den Holocaust erscheint, das noch einmal ein Stück Geschichte aufleben lässt. Ein Buch einer Überlebenden, deren ganze Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde und „welches so intim ist, dass man sich das Leben vor hundert Jahren gut vorstellen und“, so Robert: „ja sogar, riechen kann“. Zwanzig glückliche Jahre verbrachte Pici mit ihrer Familie in Großkarol – selbst dann noch, als die Lage sich für die Juden verschlechterte. Pici und ihr Bruder durften nicht auf ein weiterführendes Gymnasium gehen. Die Stadtbewohner kauften kein Holz mehr bei dem Geschäft ihres Vaters. Doch sie waren als Familie zusammen, hatten einander und standen die Zeit gemeinsam durch.

Dann kam das Jahr 1944 und der Transport in die Ghettos. Pici schildert ihre Erlebnisse lebhaft, so dass man sich fragt: Woher nahm die damals 19-Jährige die Kraft, die Grausamkeiten der Nazis auszuhalten? Den letzten Blick ihrer Mutter erhaschte sie, als sie in Auschwitz getrennt wurden. Ihr Bruder wurde schon davor in einem anderen Waggon abtransportiert. Ein Jahr lang erlebte sie die Erniedrigungen der Nationalsozialisten zusammen mit zwei ihrer Schwestern, bis sie auch diese drei Monate vor der Befreiung verlor. Pici wurde selektiert und kam ins Konzentrationslager in Rechlin, Deutschland. Sie sah Icu und Anci nie wieder. Bis zu ihrem Tod bereute sie es, nicht versucht zu haben, Icu durch ein vergittertes Fenster im Block der Schwachen zuzuwinken, um ihr Kraft zu geben. Damals fürchtete sie sich davor, ihre Schwester nicht mehr in der Kaffeeschlange stehen zu sehen. Jetzt war sie die letzte Überlebende ihrer einst so großen Familie.

Während der schrecklichen Erlebnisse in den Konzentrationslagern wandelte sich Picis Einstellung zur Welt. In ihrer Kindheit nahm die jüdische Religion viel Platz in ihrem Leben ein, doch die erlebten Grausamkeiten erstickten ihren Glauben. „Ich denke, auf diesem schrecklichen Weg änderte sich etwas in mir. Ich schaute nach oben zu dem trostlosen dunklen Himmel und sagte laut: ‘Wo bist du Gott?’“ Pici spricht von dem langen, regnerischen Marsch zurück zu ihrem Block in Auschwitz. Sie waren bei der Kleiderdesinfektion gewesen und freuten sich regelrecht auf die Baracke. Auch nachdem sie aus dem Konzentrationslager befreit wurde, kehrte Pici weiterhin dem jüdischen Glauben den Rücken. Religion spielte keine Rolle mehr in ihrer neuen Familie.

So ist auch für den Autor Robert Scheer keine institutionelle Religion von Bedeutung, denn „der Glaube macht für viele das unerträgliche Leben zwar einfacher, indem er die Schwierigkeit, sich selbst zu entwickeln, abschafft, aber damit raubt er einem auch die Freiheit.“ Auf der anderen Seite ist es vielleicht der Verdienst des jüdischen Glaubens, dass Pici trotz der traumatischen Erlebnisse ihren Werten treu bleiben konnte. Judith Buber Agassi, Professorin für Soziologie und Politikwissenschaften, schreibt über das Judentum: „Der Humanismus und die Forderung, diejenigen zu unterstützen, die schwächer sind als man selbst, die die jüdische Erziehung insbesondere den Mädchen mitgab, half ihnen, die Schrecken ihrer Gefangenschaft zu ertragen und dabei ihre Würde und Menschlichkeit zu bewahren.“

Pici, 1 Meter 50 groß, genannt die Kleine, schaffte es, ihre Liebe in sich zu hüten und an ihre Familie weiterzugeben. Oft war Robert mit seinem Bruder bei seiner Großmutter zu Besuch. Er schätzte seine Oma sehr: „Das eigentliche Wunder ist nicht in Büchern und nicht einmal in ‘besonderen Dingen’. Das Wunder sind die kleinen Dinge, der Alltag: ein Lächeln, eine Blume. Und Pici gehörte und wird für mich immer zu diesem Wunder gehören.“ 2015 starb Pici in Debrecen, Ungarn. Sie fühlte sich nicht wohl, kam ins Krankenhaus und am nächsten Tag lebte sie nicht mehr. Durch das Buch „Pici“ verschwindet sie allerdings nicht, sondern bleibt als Puzzleteil in der Geschichte sichtbar.