Poetisches Bilder-Theater

Zur jüngsten Uraufführung des Deutschen Staatstheaters Temeswar: „Niederungen“ nach Herta Müller

Die Rolle der Erzählerin spielt Eszter Tompa, im Bild mit Mara Bugarin.
Foto:DSTT

Der Kurzprosaband „Niederungen“ (1982) der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller erlebte am 29. September 2012 als Collage mehrerer Erzählungen seine Uraufführung am Deutschen Staatstheater Temeswar (DSTT). Diese Produktion, in der Regie von Niky Wolcz, unter der Mitarbeit von Ulla Wolcz, ist ein gewaltiges, gewagtes Unterfangen, das den aus Temeswar stammenden Schauspieler und Regisseur, heute Professor an der Columbia University New York, seit Jahren beschäftigte.

Schon seit 1984 wünschten beide Theaterschaffenden zusammen mit anderen ehemaligen Ensemblemitgliedern des DSTT, sich mit dem epischen Werk auseinanderzusetzen, das mit kritischen Augen betrachtet, aber auch mit Verständnis und Liebe durchtränkt, viele Erinnerungen der Autorin an ihr Herkunfts- und Heimatdorf, an das Banater Schwabendorf, verarbeitet.

Erst nach einem langen Zeitabstand kam es dazu, dieses Vorhaben gemeinsam mit der Dramaturgin des DSTT – Valerie Seufert – zu verwirklichen, sich an den Erzähltext heranzuwagen, ihn in ein mosaikartiges Panoptikum zu verwandeln, das aus dem Epischen ein belebtes Drama ergibt. Die Bühnenfassung gewinnt eine besondere metaphysisch-surreale Tiefe durch das von dem in Temeswar gebürtigen erfolgreichen Bühnenbildner Helmut Stürmer kreierte Bühnen- und Licht-Design, dessen persönliche Kindheitserfahrungen sich mit den bekenntnishaften Aussagen von Herta Müller treffen und über das Filmmedium, insbesondere durch die Filmszenen von Bogdan George Apetri, (ebenfalls an der Columbia University tätig), der in Nitzkydorf, Nachbardörfern und im Bergland in Wolfsberg mit den Ensemblemitgliedern des DSTT und Dorfbewohnern gefilmt hat, eine zweite Bilderwelt schaffen.

Das Publikum wird gleich beim Betreten des Theaters von einer magischen Bilderflut eines sich im Untergang befindenden Dorfes beeindruckt – es ist die Fotoausstellung von Helmut Stürmer und Valerie Seufert. Die Bilder bereiten atmosphärisch auf das Theaterspiel vor und erwecken während der Aufführung den Eindruck, dass sie sich in szenische Bilder verwandeln und die Vergangenheit eines sich am Weltende befindenden Dorfes heraufbeschwören.

Die Bühne, ein Dorfkern in Miniatur, der für Nitzkydorf steht, aber auch für jedes andere ländliche Milieu, deutet über symbolhafte Objekte die Spielräume an, die während des gesamten Schauspiels, in einem dynamischen Wechsel, vor den Augen der Zuschauer verschiedene konkrete Räume oder Schauplätze versinnbildlicht: Wohnhaus mit diversen Innenräumen, Schule, Kirche, Friedhof, Jahrmarkt, Ballsaal, Kino, Kulturheim, Wirtshaus u. a.

Die Spielebenen verdoppeln sich oft über das filmische Spiegelbild, wobei eine Alternanz von Innenräumen und freien Plätzen die Spielfläche für die Schauspieler bietet. Authentizität gewinnt die Inszenierung über die integrierten filmischen Szenen, die typischen schwäbischen Trachten und Tänze und nicht zuletzt durch das live spielende Orchester des DSTT.

Der rahmenbildende Wecker markiert den Anfang und das Ende des Theaterspiels, das Rinnen der Zeit, die oft stehen bleibt und in einem beeindruckend rhythmischen Spiel der Alternation zwischen schweigender Stille und dynamischer Bewegung den Zuschauer durch 26 kurze Szenen begleitet und zugleich viele Geschichten umrahmt.

Die bedrückende Dorfatmosphäre wird von komikgeladenen, manchmal grotesk-absurden Szenen abgemildert. Die Erzählerin, gespielt von zwei Darstellerinnen  –  als Kind und Erwachsene, führt die anderen Protagonisten durch die miniaturhaften Lebensszenen. Ihre Erinnerungen und Kommentare zu dem Treiben im Dorf, teilweise autobiografische Elemente der Autorin, konturieren eine scheinheilige Welt, geprägt von Hass, Sünden und Angst – Angst vor dem Vergessen der Angst, vor dem Tod. Die eingefügten pantomimischen Szenen, Schattenspiele, stumme Filmsequenzen unterstreichen die Wortkargheit der Dorfbewohner, die ins Schweigen verfallen und nur selten zu längeren Dialogen finden.

Traum- und Albtraumszenen, metaphysische Bilder des Todes – der Mann mit der Sense filmisch und theatralisch in Verdoppelung zu erleben – die filmischen Szenen von der sibirischen Front, die ritualhaften Andachts- und Beerdigungsszenen, um nur einige zu erwähnen, bebildern das Geschehen und geben eine bedrückende Atmosphäre wieder. Dennoch wird diese geschickt durch lebhafte, humorvolle, wenn auch oft in die Groteske schlitternde Szenen unterbrochen, ein verzerrtes Bild, das auf den Schein hindeutet – fröhlich anmutende Naturen, deren Innenleben von Ängsten, Vorurteilen, bizarren Nostalgien bis zu sündhaftem Verhalten gequält werden.

Die vielen episodischen Gestalten, gespielt vom vorwiegend sehr jungen und begabten Ensemble des DSTT, den auswärtigen Gästen – Schülern des Nikolaus-Lenau-Gymnasiums, von Schauspielstudenten der West-Universität und im Film Realgestalten aus Nitzkydorf und anderen Banater Gebieten – sind Darsteller einer vergangenen Welt, die nur noch in den Erinnerungen weiterlebt und durch die phantasievolle Inszenierung erneut zum Leben erweckt wird.

Viele gefühlsbetonte Szenen, poetische Bilder, mit einer starken Aussagekraft wechseln mit fröhlich anmutenden Episoden. So der einleitende, filmisch und gestisch in doppelter Aussage wiedergegebene Lebenslauf der Erzählerin, ausdrucksvoll gespielt von Eszter Tompa, der an die Stummfilmtechniken erinnert, Nostalgie und Komik des realen Geschehens verbindend.

Das sich wiederholende lustige Treiben des Schattenmannes, der in verschiedenen Erscheinungsformen auftaucht, vom Dorffotografen bis zum Mann mit der Zündholzschachtel (Alex Halka), und seiner wie Colombina anmutenden Partnerin, das Mädchen mit den Zöpfen (Silvia Török), wirkt stark parodierend. Faszinierend die Gestalten der Großmutter (Ida Gaza) und des Großvaters (Franz Kattesch), die durch Strenge und zugleich Milde ihre Enkelin durch das Leben lotsen, die in ihrer Mentalität und Lebenshaltung die sensible Stimme der Autorin vertreten.

Die stets traurig anmutende Mutter (Ioana Iacob), eine fragile, aber zugleich starke Frau, erlebt der Zuschauer in gefühlsbetonten Momenten, die mit ihrem Ehemann (Radu Vulpe) die Höhen und Tiefen des Lebens bis zu seinem Tod durchquert. Die Familienszenen faszinieren durch die authentische, realistische Spielweise der Schauspieler, die im filmischen Off als Spiegelbilder ihres Ichs dem Geschehen Tiefe verleihen, wobei die Wirklichkeit surrealistische, metaphorische, oft allegorische Nuancen annimmt.

Der unscheinbar die Bühne überquerende Invalide (Boris Gaza) beeindruckt durch sein Schweigen, das an Krieg und Verwundbarkeit erinnert. Als Kontrastfigur dazu erscheint der Dorfpfarrer (ebenfalls Boris Gaza), der für die Scheinwelt und Falschheit des Predigers als Prototyp dasteht. Zwei stark kontrastierende Höhepunkte der Vorstellung sind die Schwäbische Badeszene und die finale Grabrede, die von den Zuschauern ganz verschieden rezipiert werden – von Komik, Groteske bis zu bitterer Traurigkeit.

Es ist beeindruckend, wie es Niky Wolcz gelingt, das gesamte Ensemble und die auswärtigen Gäste in diesem Reigen des Schweigens und der Ängste, der heraufbeschworenen Erinnerungen durch die fragmentarischen Einzelszenen zu führen. Der Vorschlag von Niky und Ulla Wolcz, Theater anders zu spielen, in Zusammenarbeit mit den anderen Künstlern und der vielseitig eingesetzten Technik, verführt den Zuschauer in eine bewegte, tiefschichtige, humanistisch und zugleich humorvoll wirkende Vorstellung, die sich mit der Erzählwelt der Autorin trifft.

Der Erfolg der ersten Dramatisierung eines Erzähltextes von Herta Müller hängt weiterhin von der Bereitschaft jedes einzelnen Mitwirkenden ab, seine episodische Rolle wahrzunehmen und so zu spielen, dass daraus die Grundidee des Regisseurs und der Autorin transparent werden: Das vergangene Banater Dorfleben aus den Erinnerungen in die Gegenwart zu projizieren und damit eine Art „act of love” zum Ausdruck zu bringen. Um sich ein richtiges Bild der sehr komplexen Inszenierung zu machen, ist es wichtig, sie mehrmals zu sehen, um die feinen Details und die Vielfalt aufzunehmen.