Provozierende Gesellschaftsstudie

Mit dem Goldenen Bären ausgezeichneter Film von Radu Jude

Foto: Facebook Berlinale – International Film Festival

Schon im März dieses Jahres wurde Radu Judes neuester Film mit dem schwer übersetzbaren Titel „Babardeală cu bucluc sau porno balamuc“ auf der diesjährigen 71. Berlinale mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet, nachdem der rumänische Regisseur und Drehbuchautor im Jahre 2015 für sein historisches Filmdrama „Aferim!“ auf der 65. Berlinale bereits den Silbernen Bären für die beste Regie erhalten hatte. Der rumänische Titel seines jüngsten Films wurde auf der Berlinale mit „Bad Luck Banging or Loony Porn“ ins Englische übertragen, eine offizielle deutsche Übersetzung gibt es nicht. Ein Versuch, der die Stilebene des Originaltitels wahrt, wäre etwa „Vögelei mit üblen Folgen oder Porno-Wahnsinn“. Nun ist der 106 Minuten dauernde Film mit der Altersfreigabe ab 18 Jahren in den rumänischen Kinos zu sehen.

Bereits in seinen früheren Filmen – etwa in „Îmi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari” (Es ist mir gleichgültig, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen) oder in „Tipografic Majuscul“ (Typografisch Großschrift) aus den Jahren 2018 bzw. 2020 – hat Radu Jude in provokanter Weise auf die faschistische und kommunistische Geschichte Rumäniens Bezug genommen, erklärtermaßen immer mit Blick auf die zeitgenössische Realität. In seinem jüngsten Film beschäftigt sich Radu Jude nun unmittelbar mit der rumänischen Gegenwart der postsozialistischen Nachwendezeit, mit ihrer systemischen Ungleichzeitigkeit und ihren gesellschaftlichen Verwerfungen.

Der in drei Kapitel unterteilte Film, eine satirische Komödie mit gesellschaftskritischer Stoßrichtung, begibt sich sofort medias in res und setzt gleich mit dem Skandalon ein: dem Amateurpornovideo eines Ehepaares, auf dem die von ihrem Gatten gefilmte Frau, eine Geschichtslehrerin, in expliziten Details beim Liebesspiel zu sehen ist. Der anschließend ins Netz gestellte Pornoclip macht schnell die Runde und gelangt alsbald in die Hände bzw. vor die Augen der Schüler und deren Eltern.

Das erste Kapitel mit dem Titel „Einbahnstraße“ gibt filmisch den Gang der Lehrerin zu einem Treffen des Kollegiums in der Privatwohnung der Schuldirektorin wieder, wo über das Pornovideo gesprochen wird und die Lehrerin die Einladung zu einem Elternabend erhält, bei dem über das dadurch entstandene schulische Problem diskutiert werden soll. In diesen Sequenzen, die im Zentrum Bukarests zur heißen Frühsommerzeit spielen, wird ein Bild der rumänischen Gesellschaft entfaltet, das von Unhöflichkeit, mangelnder Empathie, Aggressivität, Rücksichtslosigkeit und Brutalität gekennzeichnet ist. Eine ironische Pointe besteht darin, dass die im Pornoclip zur Schau gestellte Oralität in den Flüchen der Passanten, Verkäufer, Kunden oder Autofahrer, die bei diesem Spaziergang durch Bukarest ins Bild gerückt werden, verbal ständig wiederkehrt, sei es auf der Calea Victoriei, auf dem Obor-Markt, auf dem Königin Elisabeth-Boulevard oder auf dem Platz des Heiligen Georg.

Noch interessanter ist aber die Kameraführung bei diesem Stadtspaziergang. Das Auge des Objektivs folgt zwar der Lehrerin, bleibt aber immer wieder an einzelnen Gebäuden, Straßenszenen, Reklametafeln, Schriftzügen hängen, um sich danach wieder an die Fersen der Protagonistin zu heften, die sich in einer Apotheke ein Beruhigungsmittel besorgt, um den bevorstehenden Elternabend seelisch durchzustehen. Bukarest mit Ruinen an der Calea Mo{ilor und Baustellen allerorten erscheint als zerstörte und aufgewühlte Stadt, deren Straßenbild mit den aus kommunistischer Zeit überkommenen Straßenbahnen und den ubiquitären Exchange-Wechselstuben der Nachwendezeit keinen Schritt nach vorne gemacht zu haben scheint. Ikonisch ist die Sequenz, in der die Kamera vor dem „Cinema Bucure{ti“ verweilt und durch ihr Innehalten deutlich macht, dass es hier nicht um das (nicht mehr betriebene) Kino Bukarest geht, sondern um Bukarest selbst als Kino. Später im Film wird das Kino auch mythologisch metaphorisiert: als Schild der Athene, der das Grauen der Wirklichkeit widerspiegelt, an dem der Betrachter, wie Perseus angesichts der Gorgo Medusa, zugrunde gehen müsste, wenn er sich diesem direkt und unmittelbar aussetzte.

Das zweite Kapitel, das in der Ökonomie des Films ein wenig zu lange geraten ist, verliert die Geschichtslehrerin zwar völlig aus dem Blick, nicht aber die Geschichte selbst. Hier werden anhand zahlreicher originaler Filmdokumente diverse Epochen des rumänischen 20. Jahrhunderts (Faschismus, Kommunismus, Revolution) kritisch beleuchtet sowie tragende Säulen des rumänischen Staates, das rumänische Militär, die orthodoxe Kirche, die rumänische Kultur (Eminescu), die rumänische Vergangenheit (Stefan der Große), ironisch in Frage gestellt oder auch polemisch angegriffen. Nach der Art eines Abecedariums werden in diesem „Kurzes Wörterbuch der Anekdoten, Zeichen und Wunder“ betitelten zweiten Kapitel des Films in alphabetischer Ordnung Begriffe von A bis Z erläutert, kommentiert und in Szene gesetzt, vom Blondinenwitz über Familie, Jesus, Penis, Selfie, Vergewaltigung und Weihnachten bis zum finalen Zen. Auch hier ist Mentalitäts- und Gesellschaftsanalyse die Hauptintention des Regisseurs, der zugleich das Drehbuch zu diesem Film verfasst hat.

Das dritte und letzte Filmkapitel mit dem Titel „Praxis und Anspielungen (Sitcom)“ schildert dann den angekündigten Elternabend, der aus Gründen der Pandemie im Innenhof der betreffenden Bukarester Schule stattfindet, wie überhaupt die Handlungssequenzen des Films, im Supermarkt, in der Apotheke, in der Wohnung der Direktorin, in der Schule, allesamt pandemisch korrekt gefilmt sind, mit Maske und sozialer Distanz, die eigentlich sanitäre Distanz heißen müsste. In dieser Elternversammlung, die eher einem stalinistischen Schauprozess gleicht – nicht von ungefähr fällt hier auch der Name von Isaak Babel! – und bei der die Lehrerin der Meute der wutschäumenden Eltern schutzlos ausgeliefert wird, erweist sich just diese allseits angegriffene Lehrerin nicht nur sämtlichen anwesenden Eltern intellektuell weit überlegen, sondern zugleich als das einzige normale und frei denkende Wesen mit gesundem Menschenverstand in der ganzen Versammlung.

Die Diskussionen, die sich nach einer erneuten Wiedergabe des Pornovideos entspinnen, rühren nach und nach bei den klageführenden Eltern den Bodensatz auf, der nach Radu Jude die rumänische Nation der Gegenwart kennzeichnet: ein Konglomerat aus Rassismus, Homophobie, Antisemitismus, Fremdenhass, Konspirationismus, Verschwörungsdenken, legionaristischem Chauvinismus, kommunistischer Rückwärtsgewandtheit, materialistischem Parvenitismus und korruptem Egoismus. Die dadurch evozierte Selbstanklage der anwesenden Eltern wird durch Scherz, Witz und Humor – deshalb „Sitcom“! – im Gleichgewicht wie in der Schwebe gehalten. Der Regisseur wird dabei nicht zum sich ereifernden Ankläger, sondern bleibt der belustigte und belustigende Betrachter, unterstützt durch situationskomödiantisches Personal (Putzfrau, Beleuchter) und verbale Elemente wie die Zwischenrufe eines Teilnehmers mit Tourette-Syndrom.

Am Ende offeriert der Regisseur den Zuschauern drei alternative Filmschlüsse. Beim ersten Schluss stimmen die anwesenden Eltern für den Verbleib der Lehrerin an der Schule, beim zweiten Schluss stimmen sie dagegen, worauf die Lehrerin selbst von ihrem Amt zurücktritt. Der dritte Schluss vollzieht sich in der Dimension der Comic- und Fantasy-Welt. Die Angeklagte wird zur Rächerin, sie verwandelt sich in eine Wonder Woman mit Wonderbra, wirft wie weiland Hephaistos über Ares und Aphrodite ein Fangnetz über die anwesende Elternschaft und nötigt die so Gefangenen mit einem Dildo einzeln zur Fellatio.

Radu Judes aufklärerischer, experimenteller, schockierender und provozierender Film wartet nicht nur mit einer Fülle von theoretischen Denkanstößen, literarischen Anspielungen und kulturgeschichtlichen Reflexionen auf, sondern auch mit einem großartigen Ensemble wunderbarer Schauspielerinnen und Schauspieler, welche die ätzende Kritik des Plots durch den Balsam des Humors und die Wohltat ihres Könnens zu lindern imstande sind und so dazu beitragen, dass auch ein letztlich vernichtendes Urteil noch mit einem Schmunzeln goutiert werden kann.