Raffaels Visionen der Madonna

Die Madonnen des Großmeisters der Hochrenaissance in der Berliner Gemäldegalerie

Raffael: „Maria mit dem Kind, Johannes dem Täufer und einem heiligen Knaben (Madonna Terranuova)“, um 1505 Foto: Staatliche Museen zu Berlin

Raffael zählt mit Leonardo da Vinci und Michelangelo zu den maßgeblichsten Protagonisten der Hochrenaissance. Entsprechend Leonardos Prinzip einer Metamorphose der Formen ging es auch Raffael darum, ein Thema durch viele mögliche Fassungen zu variieren. So entwickelte er eine erstaunliche Fülle verschiedener Madonnenmotive, die er im Laufe mehrerer Jahre in Gemälde umsetzte. Allein fünf Madonnen besitzt die Berliner Gemäldegalerie, und sie präsentiert sie jetzt – mit einer ausführlichen Darstellung ihrer Berliner Ausstellungsgeschichte – anlässlich des bevorstehenden 500. Todesjahres Raffaels 2020 in einer exquisiten Kabinettausstellung im Kulturforum. Sie wird ergänzt durch das ebenso berühmte Gemälde „Madonna mit den Nelken“ (1505-1508) aus der National Gallery London, das, erst Anfang der 1990er Jahre in der Sammlung des Duke of Northumberland als Original erkannt, nun zum ersten Mal außerhalb Englands zu sehen ist. 

Unser Genuss in der Betrachtung dieser wunderbaren Renaissance-Gemälde kann von der Freude an den perfekt gemalten Details bis zur Würdigung der Komplexität der zarten formalen Ausgewogenheit und Struktur der Bilder reichen. Wir können uns ebenso durch die Entdeckung des subtilen Wechselspiels von Blicken zwischen den Figuren bereichern lassen, die in einen profunden und stillen Austausch vertieft sind, wie durch die Erkenntnis der Weisheit, die sich im Bildganzen offenbart. Jedem Gemälde gab Raffael eine andere Betonung, jedes repräsentiert eine weitere – andere – Stufe seiner Entwicklung.

In dem frühesten Bild, der „Madonna Solly“ (um 1502), wenden sich Mutter und Kind scheinbar dem Buch zu, das Maria in den Händen hält, aber zugleich geht ihr Blick in die Ferne und sind sie in sich selbst versunken. Die „Madonna Terranuova“ (1505) – sie kann mit Raffaels Zeichnung des Kopfes der Madonna (um 1505) aus dem Kupferstichkabinett verglichen werden – füllt das Tondo mit beherrschender Kraft. Das innige Verhältnis Marias zum Jesuskind und dessen Geborgenheit im Schoß der Mutter kommt in der traulichen Umschlossenheit des runden Raumes besonders zur Geltung. Gleichzeitig hat Raffael seine florentinische Kompositionserfindung des Dreiecks den vier Figuren eingeschrieben. Deren Gesten sind von raumgreifender Plastizität und rücken die Figuren nahe an den Betrachter. Sie scheinen zu sprechen oder uns doch durch die Intensität ihres Gefühls an ihrer Vision teilhaben zu lassen. Der Seelenzustand, das emotionale Element sind zu etwas ganz und gar Persönlichem geworden. Das zeichnet die menschlichen Figuren Raffaels aus, sie sind frei vom Ausdruck des Konflikts, weniger expressiv und problembestimmt, sie sind gelöster, so wie auch Raffael persönlich ein ausgeglicheneres Verhältnis zur Welt hatte als Michelangelo, sein großer Kollege und Rivale in Rom.

Eine der reifsten Leistungen seiner Florentiner Zeit, die „Madonna Colonna“ (um 1508), ist von heiterer Gegenwärtigkeit. Raffael behielt das von Leonardo hergeleitete feintonige Kolorit bei, verlieh den Farben aber neue Substanz. Das Erdbeerrosa dieses Gemäldes wird einem im Gedächtnis bleiben. Mittels der Farbe erfolgt überhaupt die Entfaltung im Raum. Form, Farbe und das Hell-Dunkel verbinden sich, und alle rein linearen Elemente der Modellierung werden vermieden. Eine jugendliche Maria, die mit dem Christuskind spielt, zeigt dann die „Madonna mit den Nelken“ aus London. Raffael platziert hier die Dreieckskomposition Leonardos in einem ebenfalls von diesem inspirierten Raum mit offenem Fenster, welches das gedämpfte Licht erklärt. Die symbolischen roten Nelken (Hinweis auf die Passion Christi) scheinen einen Augenblick lang in einem Schwebezustand zu verharren, bevor der Christusknabe sie ergreift.

Die „Sixtinische Madonna“ (1512/13), die 1754 nach Dresden kam und das Glanzstück der Galerie Alte Meister bildet, gilt als die Krönung der zahlreichen Madonnendarstellungen Raffaels. Wegen des gleichen engen Beieinanders der Köpfe von Mutter und Kind können die Berliner Madonnenbilder als ihre „irdischen Gegenstücke“ in Beziehung gesetzt werden. Landschaftliches bildet ihren Hintergrund, während die „Sixtinische“ schwerelos in den Himmel versetzt ist.
In der Tat, Raffaels Madonnen sind Meisterwerke eines der größten europäischen Maler und dazu bedeutsame Zeugnisse der Renaissance, also einer Epoche des Aufbruchs, der wir uns besonders verbunden fühlen. Ergriffen stehen wir vor diesen Zeugnissen höchster Menschenwürde.