Reise in den Prager Frühling

Deutscher Kinostart von Anca Miruna Lăzărescus Spielfilmdebüt

Vater und Söhne unterwegs durch Europa und die Geschichte

Die 1979 in Temeswar/Timişoara geborene und 1990 gemeinsam mit ihren Eltern nach Deutschland ausgewanderte Filmemacherin Anca Miruna Lăzărescu hat mit ihrem ersten Spielfilm „Die Reise mit Vater“, bei dem sie Regie geführt und dessen Drehbuch sie verfasst hat, europäische Zeitgeschichte mit der Geschichte ihrer eigenen Familie im fiktionalen Medium des Films enggeführt Im August 1968 verschränken sich „nach einer wahren Geschichte“ das Schicksal einer donauschwäbischen, aus Vater und zwei Söhnen bestehenden Familie aus Arad, die Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die CSSR, die Zeit der Studentenbewegung im Freistaat Bayern mit Schlaglichtern auf den politischen Zustand der beiden deutschen Staaten sowie der Sozialistischen Republik Rumänien.
Die deutsche Version des Films belässt der Authentizität halber die zahlreichen auf Rumänisch gesprochenen Passagen des Films im Original und untertitelt sie lediglich auf Deutsch, und es wäre gewiss interessant, bald eine rumänische Version des Films zur Verfügung zu haben, in der umgekehrt verfahren wird. Das Casting des Films „Die Reise mit Vater“ ist höchst gelungen, die Schauspieler überzeugen allesamt, unabhängig davon, ob sie nun Rumänen, Rumäniendeutsche oder Deutsche aus der DDR und der BRD verkörpern, Bayern eingeschlossen.

„Stalinisten geht in Rente, Dubcek befrei auch uns!“ Diesen Satz haben ganz am Anfang des Films zwei Schüler des Deutsch-Rumänischen Lyzeums in Arad auf die Schulmauer geschrieben, und nun werden die beiden Schuldigen gesucht. Der junge Arzt Mihai Reinholtz (Alex Mărgineanu), der seinen Bruder Emil (Răzvan Enciu) und dessen Klassenkameraden bei diesem Schülerstreich beobachtet hat, wird von dem Securitate-Offizier Jug˛nar (Doru Ana) unter Druck gesetzt, den Namen wenigstens eines der beiden Täter preiszugeben, was Mihai letztlich denn auch tut, und zwar aus familiären Gründen: Nicht nur, um seinen eigenen Bruder zu schützen, sondern auch um die unmittelbar bevorstehende gemeinsame Reise nach Dresden nicht zu gefährden, wo der Vater (Ovidiu Schumacher) am Kopf operiert werden soll. Die innere Verletzung, an der der Vater seit Jahren laboriert, wurde ihm beigebracht, weil er den Tod seiner Frau nicht einfach hinnehmen hatte wollen (ein betrunkener Sowjetsoldat hatte sie überfahren), sondern auf einer Entschuldigung des sowjetischen Brudervolkes für dieses Tötungsdelikt bestanden hatte. So sind also von Anfang an in diesem Film Familiengeschichte und politische Geschichte, nationale und internationale Historie, individuelle Freiheit und staatspolizeiliche Überwachung eng miteinander verbunden.

Bei der Reise gen Westen werden Vater und Söhne dann endgültig von den Zeitläuften überrollt. Kurz vor Erreichen der DDR-Grenze donnern ihnen Panzer der GSSD entgegen, die in Prag für die Aufrechterhaltung eines Sozialismus ohne menschliches Antlitz sorgen sollen. Die drei Donauschwaben aus Arad werden dann unmittelbar nach Überschreiten der tschechoslowakisch-deutschen Grenze gemeinsam mit zahlreichen anderen ausländischen Sommertouristen in ein Schulgebäude verbracht, wo sie zunächst wie in einem Auffanglager festgehalten werden. Dank der Unterstützung durch die Rumänische Botschaft in Ostberlin gelingt ihnen schließlich zusammen mit weiteren fünfzig rumänischen Familien die Ausreise, aber nicht zurück gen Osten, denn die Ostgrenzen der abtrünnigen CSSR sind geschlossen, sondern weiter gen Westen in die Bundesrepublik Deutschland, freilich mit der Maßgabe, über Österreich und Jugoslawien wieder nach Rumänien zurückzukehren.

In Deutschland scheint dann plötzlich für die drei einen kurzen historischen Moment lang alles möglich! Der Vater bekommt einen Operationstermin in der Münchener Universitätsklinik, Mihai sieht Chancen für eine berufliche Zukunft in Bayern und eine persönliche Zukunft mit der studentenbewegten Ulli (Susanne Bormann), in deren Münchener WG die drei Männer untergekommen sind, allein Emil möchte wieder zu seiner Freundin Neli nach Rumänien zurückkehren, zumal er glaubt, die beherzte außenpolitische Haltung Ceau{escus, der gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei öffentlich protestiert hatte, würde sich auch innenpolitisch in einer Tauwetterperiode gesellschaftlicher Liberalisierung fortsetzen. Der plötzliche Tod des Vaters noch vor der geplanten Operation beendet jedoch alle Spekulationen und stellt unverblümt die Schicksalsfrage: Hier bleiben oder zurückkehren?

Die Antwort der beiden Brüder fällt wie erwartet unterschiedlich aus. Mihai bleibt in München, während Emil mit dem toten Vater im Sarg nach Rumänien zurückfliegt. Nach der Beerdigung in Arad bekommt Emil jedoch die ganze Härte politischer Repression zu spüren, zumal sein in Deutschland gebliebener Bruder Mihai als Vaterlandsverräter gilt. Die Eltern Nelis untersagen Emil den Umgang mit ihrer Tochter, die Arader Familienwohnung wird zwangsgeräumt, Emil zum Militär- und Arbeitsdienst eingezogen, und sein beabsichtigtes Universitätsstudium ist ins Reich der Träume gerückt. Trotz der Warnungen Emils, keinesfalls mehr hinter den Eisernen Vorhang zurückzukehren und nun erst recht im freien und sicheren Westen zu bleiben, kommt Mihai dann doch „ein Jahr später“, wiederum aus familiären Gründen, nach Rumänien zurück, wird Landarzt und nimmt heimlich auch wieder Kontakt zu seinem seinetwegen geächteten Bruder Emil auf, womit der Film denn auch endet.

Nicht zuletzt durch die Musik (Ferenc Darvas) hat Anca Miruna Lăzărescus Roadmovie „Die Reise mit Vater“ einen starken Rhythmus und einen guten Drive, zumal Emil und Mihai selbst mit Gitarre und Klavier oftmals für die musikalische Auflockerung des Filmgeschehens sorgen. Auch der Humor kommt nicht zu kurz, etwa wenn im WC der Münchener WG eine Minibüste Lenins als Toilettenkettengriff fungiert, oder wenn die drei dem Sozialismus soeben entkommenen Donauschwaben in einem Ambiente beherbergt werden, in dem Marx und Lenin die Hausgötter sind. Gewiss lässt sich darüber streiten, ob die Grundthese des Films stimmt, dass nämlich der Überwachungsstaat eine systemunabhängige und staatsformenübergreifende innenpolitische Realität darstellt, die in den einzelnen Ländern nur von unterschiedlichen Akteuren betrieben wird: von der Securitate in Rumänien, von der Stasi in der DDR und vom Bundesamt für Verfassungsschutz in der BRD. So wird Mihai im Film gleich dreimal von staatlichen Organen angeworben oder unter Druck gesetzt: in Rumänien, um den aufmüpfigen Mitschüler seines Bruders zu dessen Schutz den Schlägern der Securitate auszuliefern; in der DDR, um im Auffanglager an der Grenze seine eigenen Landsleute zu überwachen, damit sein Vater sich am Ende vielleicht doch noch der notwendigen Operation in Dresden unterziehen kann; und in der BRD, um als V-Mann die linke WG seiner Freundin auszuspionieren, damit sein Bruder Emil möglicherweise die Erlaubnis erhält, als Rumäniendeutscher in die Bundesrepublik Deutschland zu emigrieren.

Hier und da unterlaufen der jungen Filmemacherin historische Fehler. Ceauşescu war 1968 noch nicht rumänischer Staatspräsident, wie die Filmfigur eines rumänischen Touristen dies von ihm behauptet („preşedintele nostru“), das Amt legte er sich erst 1974 zu. Die im Film gezeigten Grenzübertritte wirken allesamt unrealistisch und das Defilee der rumänischen Wagenkolonne auf dem Weg in die Bundesrepublik gleicht eher einer kapitalistischen Oldtimer-Schau als einem sozialistischen Urlauber-Treck. Anca Miruna L˛z˛rescus Film kann aber qualitativ auf jeden Fall mit anderen Streifen, etwa von Radu Gabrea, mithalten, die sich gleichfalls mit rumäniendeutschen Sujets befassen und zugleich einen erhellenden Blick auf die jüngere Zeitgeschichte werfen, zumal bei der aus Rumänien gebürtigen Regisseurin und Drehbuchautorin noch die eigene Familiengeschichte als persönliche Motivation und Legitimation überzeugend hinzutritt.