Reizüberflutung, Ratlosigkeit und Faszination

Schockieren das Publikum mit „Kein Applaus für Scheiße“

Sie liegt auf dem Rücken. Er sitzt auf den Knien, den Oberkörper über sie gekrümmt und schiebt tiefer und tiefer den rechten Zeigefinger in seinen Hals. Eine satt blaue Flüssigkeit verteilt sich unter lautem Erbrechen über Florentiner Holzingers Körper. Er wiederholt es wieder, wieder und wieder. Alles für das Publikum. Alles für die Kunst.

Am Tag der Deutschen Einheit: Es wirkte zunächst wie ein üblicher Pressetermin: Zum Abschluss  der kulturellen Veranstaltungsreihe „Der/Die/Dans“ vom österreichischen Kulturforum würde eine Tanzshow gezeigt, die den Namen „Kein Applaus für Scheiße“ trägt. Was dort im Nebenraum des Control Clubs (Strada Constantin Mille 4) geschehen sollte, war einbrennend für alle Zeit.

Ein süß-säuerlicher Geruch lag in der Luft; etwas Fremdes, das noch um weitere Noten ergänzt werden sollte. Pisse und Kotze, Schwefel und Schweiß und Marihuana drängten sich in die reizüberfluteten Sinnesorgane des Publikums, vermischten sich und wurden kaum bemerkt. Denn was die Augen verrieten, wollte der Verstand nicht glauben.

Es dauerte eine Weile, bis ich – obwohl ich in der zweiten Reihe saß – erkannte, dass ich eine relativ stark behaarte Vagina sah. Flo, die entblößte österreichische Tänzerin, saß auf einem Stuhl und streckte die Beine in einem 90°-Winkel zueinander in die Luft. Das hätte mich schocken müssen, aber selbst im Publikum herrschten zu diesem Zeitpunkt noch Stille und Geduld. Wir konnten ahnen, was geschehen würde, aber nicht glauben, was wir ahnten. Ein roter Bindfaden hing aus ihrer nackten Scheide. Der Niederländer Vincent Riebeek kniete vor ihr, nahm – mit dem Rücken zum Publikum – den Faden mit dem Mund auf, beugte sich tiefer und zog ihn mit Zungen- und Gebisskraft aus ihrem Geschlechtskanal. Dies war nur eines von verschiedenen faszinierend schockierenden Ereignissen.

„Was wollen uns die Künstler damit sagen?“, fragten sich manche gar nicht erst und verließen empört den Raum. Drogen, Suff, Sucht, Nacktheit, Tod und Geschlechtertausch als Akteure eines hämmernden Gefühls der Ratlosigkeit. Auf der Bühne zeigten zwei Menschen die tiefsten Abgründe ihrer Seelen. Ich glaube, an diesem Abend fühlte sich jeder privat. Im Nachhinein sagte mir Vincent, das sei er. „Es ist quasi mein Tagebuch.“