Russlands klassische Musik und ihr schwerer Stand im Westen

Für Interpreten von Weltklasse ist Schweigen keine Option mehr

Valery Gergiev | Foto: Wikimedia Commons

16. März 1972 in West-Berlin. Die Bundesrepublik Deutschland ist ökonomisch so stark wie nie zuvor in der Nachkriegszeit. Am Pult der Berliner Philharmoniker steht Violin-Ikone David Oistrach, der auf dem Schlussspurt seiner Laufbahn auch mit dem Taktstock in der Hand Einmaliges auf die Bühnen der Welt zaubern sollte. Dass Herbert von Karajan als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker auf Lebenszeit den großen Geiger aus der Sowjetunion einlädt, mit seinem Ausnahmeorchester zu proben und ein Konzert zu spielen, erscheint trotz des Kalten Krieges wie selbstverständlich. Auf dem Programm am Donnerstagabend Mitte März 1972 unter Maestro David Oistrach steht die Sechste Symphonie in h-Moll op. 74 von Pjotr Iljitsch Tschaikowski, die „Pathétique“. Das im Oktober 1893 in St. Petersburg uraufgeführte Opus in vier herben Sätzen ist das letzte Werk jenes Tonsetzers, dem Russland das Aufschließen in die abendländische Musikkultur verdankt, und gilt bekanntlich als sein wortloses Testament.

Die Aufführung in der erst neun Jahre alten Berliner Philharmonie von Architekt Hans Scharoun und mit nicht großer Entfernung zum Todesstreifen zwischen Ost und West wird live mitgeschnitten. 48 Minuten und 23 Sekunden benötigt Sowjetbürger und Weltmusiker David Oistrach an diesem Abend für seine Interpretation eines der begehrtesten und anstrengendsten Standardwerke der klassischen Orchesterliteratur. Die im Noch-Zeitalter der Schallplatte analog aufgezeichnete „Pathétique“ mit David Oistrach und den Berliner Philharmonikern ist bis heute eine sensationelle Referenzaufnahme. Herbert von Karajan, der die digitale Revolution in der Musik als Präsentator der Compact Disc 1981 selbst losgetreten hatte und am späten Abend seines Lebens den Wunsch äußerte, „zwanzig Jahre später geboren worden zu sein“, war schon im Mai 1976 mit David Oistrach gleichgezogen.

Weil die „Pathétique“ auch ihm viel bedeutete. Beide Aufnahmen aus der Berliner Philharmonie sind auf YouTube verfügbar. Dass Karajan in akribisch geplanten Sitzungen statt live einspielen ließ, macht noch keinen Unterschied aus. Auch die 46 Minuten und 14 Sekunden, die ihm mit seinen geliebten Berliner Philharmonikern für die „Pathétique“ ausreichten, zeigen im Vergleich zu Oistrach nicht den entscheidenden Qualitätsmangel an. Die zwei Minuten Differenz in der Spieldauer machen den schnelleren Karajan nicht zu einem weniger guten, und den langsameren Oistrach nicht zu einem weitaus überragenden Dirigenten. Nimmt man diese zwei Aufnahmen technisch genau unter die Lupe, fällt David Oistrach mit seinen breiten Tempi für die letzte Tschaikowski-Symphonie letztlich gar noch unter das Raster: Wo bei Maestro Karajan nichts anbrennt, hat der Solo-Trompeter unter der Leitung von Oistrach Mühe, seiner Rolle souverän ohne den ein oder anderen hörbaren Ausrutscher gerecht zu werden.

Als risikobereiter Grenzgänger dagegen behält in der „Pathétique“ David Oistrach die Oberhand. Trotz aller kleinen Schnitzer in den Blechbläser-Reihen, die seinem absichtlich behäbigen Musizieren geschuldet sind. Über den schwer lastenden Höhepunkt kurz vor Ende des Kopfsatzes fegt Karajan in Rekordzeit weg, wogegen der legendäre Interpret aus Moskau den neun aufeinanderfolgenden Posaunenstößen und dem darauf verebbenden Paukenwirbel Zeit gibt, die von Tschaikowski vorprogrammierte Albtraum-Wirkung zu entfachen.

Und er lag damit völlig richtig, weil die Posaunenstöße im Idealfall in Probe und Konzert den hautnahen Reiz eines dicken Eiswürfels erregen, der einem langsam die Wirbelsäule entlang geführt wird. Erst, wenn Orchestermusiker, Dirigent und Zuhörer die Erfahrung aufgestellter Nackenhaare machen, hat die „Pathétique“ bei ihnen ins Schwarze getroffen.

Spiel mit offenen Karten

Er war in Vertretung der russischen Hauptstadt nach West-Berlin gereist, aber sein Geburtsort war Odessa – die Stadt am Schwarzen Meer, wo Sonntag, am 1. Mai 2022, eigentlich das Europa-Konzert der Berliner Philharmoniker hätte stattfinden sollen. Weshalb das Gastspiel des berühmtesten aller großen Orchester der Welt unter Chefdirigent Kirill Petrenko in die baltische Hafenstadt Liepaja an der Ostseeküste verlegt wurde, muss nicht weiter erklärt werden. Lettin und Opernstar Elina Garanca als Solistin war sicher mit ein triftiges Motiv, kurzfristig bei der Great-Amber-Konzerthalle um Auftritt anzuklopfen. Aus dem Plan, der Metropole von David Oistrach und dem nicht weniger geschätzten Swjatoslaw Richter Jahrzehnte nach ihren Leben das Beste aus ganz Europa frei Haus zu bringen, wurde nichts.

Natürlich aus Vorsicht auf Seiten der Berliner Philharmoniker, die zu keinem Zeitpunkt im Vorfeld öffentlich von Odessa ausgeladen wurden. Noch am 25. Februar meldete sich Kirill Petrenko in einer schriftlichen Stellungnahme klar zu Wort: „Der heimtückische und völkerrechtswidrige Angriff Putins auf die Ukraine ist ein Messer  in den Rücken der ganzen friedlichen Welt. Es ist auch ein Angriff auf die Kunst, die bekanntlich über alle Grenzen hinaus verbindet. Ich bin zutiefst solidarisch mit all meinen ukrainischen Kolleginnen und Kollegen und kann nur hoffen, dass alle Künstlerinnen und Künstler für Freiheit, Souveränität und gegen die Aggression zusammenstehen werden.“

Die Titelrolle der Oper „Pique Dame“ von Tschaikowski, von den Berliner Philharmonikern und ihrem Chefdirigenten während der Osterfestspiele 2022 in Baden-Baden aufgeführt, sang die russische Sopranistin Elena Stikhina.

Wie gewonnen, so zerronnen

Das mit Kiew städtepartnerschaftlich verbundene München tat sich um die gleiche Zeit als raueres Pflaster hervor. Oberbürgermeister Dieter Reiter forderte den 2013 zum Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker gewählten Valery Gergiev am selben 25. Februar 2022 zu einer öffentlichen Distanzierung von Putins kriegerischer Politik in der Ukraine auf. Dass der seit 1996 ununterbrochen tätige Intendant des St. Petersburger Mariinski-Theaters sich auch nach Ablauf der Reaktions-Frist in München am 28. Februar jeder noch so kleinen Antwort auf die klare Kündigungsdrohung verweigerte, polarisierte die Facebook-Klientel der Münchner Philharmoniker. Binnen eines Monats standen fast sechshundert Kommentare zu Buche.

Es ist Realität und sollte in der Szene nicht einfach so übergangen werden, dass mindestens die Hälfte von ihnen Valery Gergiev als offenen Freund von Putin in Schutz zu nehmen versuchten und ihr bayrisches München als „ignorant“, „rassistisch“ und „faschistisch“ verschrien.

Nicht ganz restlos unkritisch könnte auch beobachtet werden, dass Lorenz Nasturica-Herschcowici, seit 1992 Erster Konzertmeister der Münchner Philharmoniker und aus Rumänien stammend, trotz der Auflösung des Vertrages von Gergiev in München ihm Anfang Mai als Gast-Konzertmeister des Mariinski-Orchesters auf einer Tournee durch Russland aushalf. Laut dem Londoner Magazin „The Strad“ bemerkte die Intendanz der Münchner Philharmoniker, dass jeder Aufführende „für sich selbst beantworten“ müsse, ob und wie ein bestimmtes Engagement „ethisch“ zu verantworten sei oder nicht.

Der Unterschied zwischen Nasturica-Herschcowici und Gergiev? Letzterer ist Dirigent und steht darum verstärkt im Rampenlicht der Öffentlichkeit.

Vieles deutet darauf hin, dass er als 1953 in Moskau geborener und am Konservatorium in Leningrad studierter Spitzenkönner seiner Generation wohl vom Betreten des internationalen Parketts in der westlichen Welt definitiv Abschied nehmen muss. Auch wenn er sich einen Platz darauf in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft hat.

Klavier-Altmeister Dan Grigore aus Bukarest, der es vor 1990 sehr entschieden ablehnte, sich beim kommunistischen Geheimdienst in Rumänien, der „Securitate“, lieb Kind zu machen, und darum in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts kaum noch im Ausland auftreten durfte, erinnert sich in einem 2016 von Journalistin Dia Radu veröffentlichten Interview (Polirom-Verlag) an sein Konzert als Solist der Staatsphilharmonie „Transilvania“ Klausenburg/Cluj-Napoca in der Spielzeit 1986/1987, das Valery Gergiev dirigierte. Der ihm sagte: „´Dorogoi moi´, ich gehe auf die Vierzig zu. Jüngere als ich machen bereits international Karriere, weil sie den Schritt getan haben. Tust Du das nicht, gelingt es dir nicht. Ich habe nicht mehr Geduld und auch nicht mehr die Kraft, die Anonymität zu ertragen.“

Radikal zur Mitte hin

Sie greifen nicht mehr, die alten Finten und Tricks aus der Epoche des Kalten Krieges. Wobei man aber auch Valery Gergiev nicht im Geringsten unterstellen kann, dass seine bisherige Spitzenkarriere im Westen ausschließlich als Ergebnis von Kollaboration mit dem Überwachungssystem eines politisch unfreien Staats zu deuten ist. Künstler haben schließlich wie alle anderen Menschen auf der Welt auch das gute Recht, politisch zu sein. Nur eben mit der Bedingung, sich darin nicht zu verzocken.

Hat Orchester-Papst Herbert Karajan sich 1972 mit der Einladung von David Oistrach nach West-Berlin in der Weltpolitik gefährlich um Kopf und Kragen für die Musik des Zarenreiches verwendet? Nein. Hat Oistrach daheim in Russland ganz besonders unsaubere Maschen anwenden müssen, um regelmäßig im Westen auftreten zu dürfen? Wahrscheinlich auch nicht. Und falls doch, hat er sich zumindest nicht verzockt. Mehr noch: die beiden Violinkonzerte seines Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch hat David Oistrach uraufgeführt.

Beim Fall des Namens Schostakowitsch übrigens drängt sich dessen wuchtige 5. Symphonie in d-moll auf, die er noch 1937 als Satire auf das Gewaltregime des kommunistischen Russland aufsetzte. Doch der Komponist aus St. Petersburg mit absolutem Gehör scheute sich nicht, nach Maßgabe jeweiliger Tagesgeschehnisse in der Welt auch die politisch rechte Extreme mit seiner kritischen Feder musikalisch zur Ordnung zu mahnen, wie sich in seiner 7. Symphonie in C-Dur, der „Leningrader“, hören lässt, die 1942 sowohl in Moskau als auch New York gespielt wurde. 2022 kulturpolitisch unvorstellbar, oder? Der deutsche Faschismus, aus dessen Umzingelung Leningrad sich letztlich befreien konnte, scheint einstweilen genau dorthin mutiert zu sein, von wo aus ihm früher einmal die russische Stirne geboten worden war.

Kommunismus ist gewiss kein gesundes Mittel zur Antwort darauf. Widerstand den Neomarxisten! Auch in der Welt klassischer Musik sollte es nicht angehen, auf extreme Bedrohungen extrem reagieren zu wollen. Die Entlassung von Valery Gergiev in München ist nicht extrem. Extrem wäre es gewesen, ihn nicht zu einer Stellungnahme aufzufordern.

Wird es noch einmal wie früher klingen?

Es gab mal eine Zeit, da war in Fettnäpfchen kein wirkliches Fett zu finden, und das war gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die deutsche Erstaufführung der „Leningrader“ Symphonie von Dmitri Schostakowitsch fand im Dezember 1946 in der Berliner Staatsoper Unter den Linden statt – mit dem später in München großen Sergiu Celibidache und den Berliner Philharmonikern. Zur Stunde dieses Konzerts war von der Berliner Mauer und der DDR als Herrin der Staatsoper Unter den Linden noch so gut wie überhaupt nichts zu sehen.

Auch in Dresden, dem berühmt-traurigsten aller urbanen Opfer Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, machte eine Nachricht die Runde: Michail Jurowski, 1945 in Moskau geboren sowie seit 1989 ständig als Gastdirigent der Sächsischen Staatskapelle und an der Semperoper engagiert, verstarb am 19. März 2022 im Alter von 76 Jahren. Als Kind in Russland hatte er noch vierhändig Klavier mit Dmitri Schostakowitsch gespielt.

Bestätigend außerdem das Statement von Axel Köhler, Rektor der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden: „Wissend, dass beide Völker diesen Krieg eigentlich nicht führen wollen, wird unsere Hochschule der Krise zwischen Russland und der Ukraine zum Trotz weiter eine künstlerische Heimat für Studierende und Lehrende aus der Ukraine und aus Russland sowie der ganzen Welt sein.“

Leicht gesagt, aber sehr schwer zu erreichen. Zu spüren bekommen hat es auch der 44 Jahre alte Tugan Sokhiev, ständiger Gastdirigent westlicher Eliteorchester, Musikdirektor des Nationalorchesters am Opernhaus Capitole in Toulouse und Chefdirigent am Moskauer Bolschoi-Theater. Anfang März trat er von beiden letztgenannten Positionen zurück. Denn „in Europa zwingt man mich heute, eine Wahl zu treffen und ein Mitglied meiner musikalischen Familie dem anderen vorzuziehen.“