Sanft glänzendes Juwel

Anita Hartig als Micaëla in Bizets „Carmen“ an der Metropolitan Opera

In Zeiten, in denen Theater geschlossen bleiben, in denen Kunstliebhaber durch die Unmöglichkeit des direkten Kontakts mit Kunst und Kultur und dem damit einhergehenden sozialen Austausch deutliche Entzugserscheinungen verspüren, bieten Kultureinrichtungen den treuen Begleitern im Online-Stream einige ihrer Aufführungen, um den Kontakt aufrecht zu erhalten. Zwar kann dieses Angebot nicht Ersatz für entgangene Konzert- oder Theatersaal-Atmosphäre sein, bietet jedoch durchaus die Möglichkeit so mancher Entdeckung oder Reise in eine goldene Zeit des Theaters oder der Oper.

Zahlreiche Film- und Theaterfestivals, Opernhäuser, Theater oder Philharmonien buhlten in den letzten Monaten um das Interesse und das Wohlwollen der zwangsläufig zuhause gebliebenen Kulturbegeisterten. Und es zeigte sich: Nicht alle Institutionen waren gleich gut darauf vorbereitet. So manche Aufnahme enttäuschte aufgrund mangelnder klanglicher, visueller oder technischer Qualität. Absolute musikalische wie technische Meisterleistungen boten die Berliner Philharmoniker, die mit dem Digital Concert Hall seit Jahren höchste Standards setzen.

Im Bereich der Oper hat die Metropolitan Opera New York seit Jahrzehnten einen großartigen Schatz an legendären Aufnahmen mit den besten Sängern der Welt erstellt und damit für seine Fans ein Verwöhnprogramm zusammengestellt, das keine Wünsche offen lässt. Vom Barock bis zur zeitgenössischen Oper, von den großen Titeln bis zu den seltenst gespielten Werken des Opernrepertoires bietet die Met alles – immer in sagenhaften Besetzungen, mit dem wohl besten Opernorchester der Welt und einem stets unglaublich wandelbaren und facettenreichen Chor, in Inszenierungen, die werknahe und technisch wie visuell zu überzeugen vermögen. So sind die legendären Größen vergangener Zeiten zu erleben, oder die Rising Stars von heute. So war beispiels-weise eine sagenhafte Angela Gheorghiu an der Seite von Roberto Alagna in der selten gespielten und doch so zauberhaften Puccini-Oper „La rondine“ (eine Aufnahme von 2009) zu erleben.

Oder aber man entdeckt, wie jüngst am 2. Juli der Fall, eine Produktion von Bizets „Carmen“ vom 1. November 2014 mit der Sopranistin Anita Hartig in der Rolle der Micaëla. Anita Rachvelishvili sang die Titelrolle, Aleksandrs Antonenko war Don José und alle überzeugten durch solide Leistungen.

Anita Hartig verleiht der Micaëla Authentizität und Glaubwürdigkeit, sowohl theatralisch – durch ihre sehr innig gelebte Bühnenpräsenz – als auch musikalisch. Hartig fühlt sich in allen Stimmlagen wohl, singt natürlich und hell, empfindsam und intensiv. Ihr Timbre ist wunderbar warm und unverwechselbar. Die zauberhafte Arie „Je dis que rien ne m’épouvante“ legt die zahlreichen Qualitäten der Sängerin dar: die Schönheit der Phrasierung, das Gefühl für den Aufbau des musikalischen Spannungsbogens, die Leichtigkeit der Interpretation, die Selbstverständlichkeit der Darstellung, und wird zu einem wahren Triumph. Das Publikum spendet Applaus und Ovationen. Hartig ist das sanft glänzende Juwel der Aufführung. Seitdem ist sie mehrmals an der Metropolitan Opera aufgetreten, unter anderem als Mimí in Puccinis „La Bohème“, ihrer Paraderolle.

Die aus Bistritz stammende Anita Hartig wuchs in einer Familie mit siebenbürgisch-sächsischen Wurzeln auf, studierte in Klausenburg und geriet schnell in den Fokus der internationalen Bühnen. 2009 bis 2014 gehörte sie zum Ensemble der Wiener Staatsoper. Sie ist auf den großen Opernbühnen der Welt aufgetreten, darunter die Mailänder Scala, die Royal Opera House Covent Garden, die Pariser Oper, die Brüsseler La Monnaie, die Bayerische Staatsoper oder die Berliner Staatsoper. Für die nächste Zeit sind Auftritte unter anderem im Concertgebouw Amsterdam, der Houston Grand Opera, der Metropolitan Opera New York (als Violetta Valéry in Verdis „La traviata“) und an der Opéra National de Paris (als Marguerite in Gounods „Faust“) vorgesehen.

Es bleibt nur zu hoffen, dass die musikalische Normalität bald wieder eintreten wird, denn nichts kann das unmittelbare Erleben der Kunst ersetzen. Solange das jedoch nicht möglich ist, werden uns Aufführungen wie diese – so herzerwärmend schön gesungen – helfen, die schwierigen Zeiten leichter zu überwinden.