Schwerer Weg zurück zu den Wurzeln

Die Geschichte einer Innu auf der Suche nach ihrem Volk

Die junge Lehrerin Yammie kehrt aus Quebec an ihren Geburtsort im Reservat Uashat am großen Sankt-Lorenz-Strom zurück. Acht Autostunden ist ihr altes Heimatdorf entfernt, das sie mit sieben Jahren verlassen musste. Im städtischen Exil war sie „ein kleines braunes Mädchen zwischen all den weißen Gesichtern, den blauen und grünen Augen, dem blonden und lockigen Haar“ gewesen. „Eine Fremde. Die Neue. Anders.“ Eine Innu. Als sie sich 15 Jahre später an die kleine Schule an diesen Ort versetzen lässt, weil sie spürt, dass sie zu ihren Wurzeln zurückkehren und ihrem Volk etwas geben möchte, stellt sie fest, dass sich die Dinge grundlegend verändert haben... Wird Yammie ihre alte Heimat zurückerobern können?

Die Zukunft der Jugendlichen, muss sie bald erkennen, ist von Alkohol, frühen Schwangerschaften,  einer hohen Selbstmordrate und Depressionen überschattet. Nur schwer kommt sie an ihre Schüler heran, die sie, obwohl sie nur wenig jünger sind, hartnäckig „Madame“ nennen. Nur nach und nach erfährt Yammie die dramatische Geschichte von so manchem widerspenstigen Störer, dem sie oft nicht anders Herr wird als durch Ausschluss vom Unterricht. Eine unsichtbare Mauer trennt sie von ihren Schülern, ihren Landsleuten, dabei sind fast alle im Dorf miteinander verwandt. War sie nach den vielen Jahren in der Hauptstadt schon „zu weiß“ geworden? 

Yammie ist entsetzt, als sie als letzte vom Herzinfarkt der Mutter eines ihrer schwierigsten Schüler erfährt. Dieser provozierte stets durch seine Negativhaltung, schon mehrmals hatte sie ihm das gesagt, nun kritisierte sie sein Fehlen vor der ganzen Klasse - und die Schüler reagieren empört! Yammie versteht nicht. Bohrt nach. Ist zutiefst erschüttert, als sie es den Kindern endlich aus der Nase ziehen kann. Ein Mädchen bemerkt vorwurfsvoll: „Das ist so traurig, Madame. Wie kann es sein, dass du davon nichts gehört hast?“

Die Fäden zur Stadt reißen endgültig schmerzvoll ab, als ihr dortiger Freund Yammie den Laufpass gibt. Auf dem Land, zu Besuch bei ihren Tanten, werden alte Fäden zaghaft wieder aufgenommen. Die Erkenntnis, wie viel tiefe Liebe sie in ihrer bitterarmen, schicksalsgebeutelten Familie wiederentdeckt, die Erinnerung an ihre Großeltern, schmerzt. Doch sie ist wild entschlossen, dieses Erbe für sich anzunehmen! 

Bevor sich langsam neue Bande knüpfen, muss Yammie bittere Einsamkeit, Isolation und Enttäuschungen durchleben. Eine gemeinsame Klassenfahrt in die Wildnis und ein ehrgeiziges Schultheater-Projekt bringen dann endlich die langersehnte Wende...

Yammie erinnert sich: „Unsere Gastgeber hießen Anne-Marie und Jean-Guy. Ein ruhiges, freundliches Paar, einfache, ehrliche Leute. Sie waren Innu, die das Leben von Innu lebten.“ Mit einem handgenähten, schweren, perlenbesticken Parka hing sich Jean-Guy das Gewehr um und raste mit dem Schneemobil durch die Wege im meterhohen Schnee. Er war Hausmeister in einer Eisenmine in Fermont. Im Winter, wenn die Mine geschlossen war, überbrückte das Paar die Monate der Arbeitslosigkeit in ihrer Hütte in Dolliver, mitten in der Wildnis. Was faszinierte Yammie und ihre Schüler so an diesem Mann? War es die Ruhe, die er ausstrahlte, wenn sie mit dem Schneemobil über die tauende Seeoberfläche fuhren und die Kufen beängstigend tief in das schmelzende Eis einsanken? Oder war es die Sprache der Wildnis, Innu-Aimun, „unsere Sprache, in der er von der Lebensweise unserer Vorfahren erzählte?“ Wenn er redete, hörte die Klasse gebannt zu, wie er ihnen mit seinen einfachen Worten eine ganze Welt eröffnete. 

Einige Schüler kannten das Leben in der Natur. Sie brachten ihrer Lehrerin bei, wie man ein Gewehr hält und auf den Kopf eines Schneehuhns zielt, wie man sich anzieht, um keine kalten Füße zu bekommen, und Yammie entdeckte, wie schön  es sein kann, abends in der Mädchenhütte bei Kerzenschein aus seinem Leben zu erzählen, jede in ihr Bett gekuschelt. „Wir befanden uns in einer anderen Welt, weit weg von Schulbüchern und Klausuren. Weit weg von den sozialen Medien und dem Klatsch im Reservat. Weit weg von allen Familiendramen und von dem Unglück, das sie mit sich brachten. Weiter weg als an allen anderen Orten, an denen ich je gewesen war. Und trotzdem waren wir ganz nah dran. Ganz nah dran an uns selbst.“ 

„Die kleine Schule der großen Hoffnung“ ist ein herzergreifender Roman über das Leben im Reservat, geschrieben von einer der bedeutendsten First-Na-tion-Autorinnen Kanadas, Naomi Fontaine, selbst Innu, geboren 1987 in Uashat. Wie die Hauptheldin Yammie hat auch sie als Kind mit ihrer Mutter das Reservat verlassen, um in der Stadt Quebec zu leben, wo sie Philosophie und Pädagogik studierte. Heute lebt die mehrfach prämierte Autorin, die bisher drei Romane veröffentlich hat, mit ihren Kindern wieder  in Uashat. 

Ihr Debütroman „Kuessipan“ wurde verfilmt, „Die kleine Schule der großen Hoffnung“ stand 2018 auf der Shortlist für den renommiertesten kanadischen Literaturpreis und erwies sich auch international als Erfolg. „Ein Roman, der von Widerstandsfähigkeit und Hoffnung erzählt und von dem Mut, über sich hinauszuwachsen. Zutiefst menschlich, sehr bewegend“, schreibt Radio-Canada. 2019 erschien ihr dritter, ebenfalls preisgekrönter Roman „Shuni“. Naomi Fontaine war 2021 auf der Frankfurter Buchmesse Ehrengast aus Kanada.

„Die kleine Schule der großen Hoffnung“, Naomi Fontaine, Bertelsmann Verlag, ISBN 978-9-570-50982-1