Swingendes Barock

Jean-Philippe Rameaus Oper „Platée“ im Stuttgarter Großen Haus

Thomas Walker als Platée mit Mitgliedern des Staatsopernchors Stuttgart Foto: A.T. Schaefer

Platée ist eine in die Jahre gekommene, eingebildete, hässliche Sumpfnymphe, die sich gleichwohl immer noch Hoffnung auf Liebe oder Ehe macht, oder auf beides zusammen. Trotz ihres komischen Aussehens ist sie so vermessen zu glauben, Cithéron, der König des Kithairon-Gebirges unweit von Athen, habe es auf sie abgesehen. Diesen Umstand macht sich Merkur zunutze, der im ehelichen Zwist des obersten olympischen Götterpaares vermitteln will. Um Juno von der rasenden Eifersucht auf den ständig fremdgehenden Jupiter zu kurieren, täuscht er eine baldige Verheiratung des Göttervaters mit der Nymphe Platée vor.

Diese fühlt sich geschmeichelt, Jupiters Gattin dagegen schäumt vor Wut. Wie eine Furie platzt sie in die – fingierten – Hochzeitsfeierlichkeiten herein, reißt Platée den Schleier vom Haupt (in der Stuttgarter Inszenierung ist es eine Perücke) – und bricht in Lachen aus: eine so hässliche Person kann der untreue Gatte keinesfalls gefreit haben! Der Ehekrach löst sich in Wohlgefallen auf. Am Ende singen alle ein spöttisches Preislied auf die betrogene und gedemütigte Nymphe, die mit einem wütenden „Schweiget still!“ dagegenhält.

So weit das Handlungsgerüst von Jean-Philippe Rameaus barocker Oper, die mit der Gattungsbezeichnung „Ballet bouffon“ (närrisches Ballett) in die Musikgeschichte eingegangen ist. Uraufgeführt wurde das Werk im Jahre 1745 in Versailles, und zwar anlässlich der Feierlichkeiten zur Hochzeit des französischen Thronerben Louis Ferdinand, des Enkels des Sonnenkönigs, mit der spanischen Königstochter Maria Theresia, die zeitgenössischen Quellen zufolge nicht gerade eine Schönheit gewesen zu sein scheint.

Was zu einer schlimmen Verstimmung hätte führen können – eine Oper mit einer hässlichen Sumpfnymphe als Hommage an eine wenig vorteilhaft aussehende königliche Braut! – tat dem Erfolg des Werkes jedoch keinen Abbruch. Auch Parallelen zwischen der Opernfigur des ewig fremdgehenden Jupiter und dem Bräutigamsvater Ludwig XV., der durch eine stattliche Liste von Mätressen glänzte und damals gerade dabei war, jene durch Madame de Pompadour zu ergänzen, schadete dem Ruf der Oper nicht, die zu Lebzeiten Ludwigs XV. noch mehrmals aufgeführt wurde.

Das zweifelhafte moralische Sujet der Oper – die kollektive Verspottung einer unvorteilhaft aussehenden Frau – stellt eine weitere Rezeptionshürde für „Platée“ dar. Mochte dieses Sujet in traditionellen, restriktiven Gesellschaften noch hingegangen sein, so ist es in aufgeklärten, permissiven Gesellschaften längst nicht mehr als ästhetisch und moralisch korrekt zu bezeichnen.

Der Regisseur der Stuttgarter Inszenierung, die im Juni vergangenen Jahres Premiere hatte, ersetzt den körperlichen ‚Makel’ der Titelfigur deshalb durch einen anderen: Davon inspiriert, dass Rameau die weibliche Titelrolle für einen Haute-Contre, eine hohe männliche Stimme zwischen Tenor- und Altlage, komponiert hatte, macht Calixto Bieito in Stuttgart die Titelfigur zu einem Transvestiten. Wenn Juno und Platée sich am Ende der Oper in die Haare geraten, enthüllt die der Nymphe vom Haupt gerissene Perücke das factum brutum: die Konkurrentin ist ein Mann! Über diesen ‚Makel’ zu lachen, ist heutzutage wohl kaum sexuell und moralisch korrekt und rettet überdies nicht die fragwürdige Schlusspointe des Opernfinales: So wie die Hässlichkeit des Objekts von Jupiters Begierde kein Argument für seine Treue ist, so ist es noch weniger das Geschlecht des Begehrten, man denke nur an Jupiter und Ganymed in Lukians „Göttergesprächen“.

Calixto Bieito hat aus dieser Schwäche des Librettos den richtigen Schluss gezogen und bei seiner Inszenierung jeden Ernst und Tiefgang vermieden. Alles wird an die lustige Oberfläche geholt, mit einer Fülle von Regieeinfällen gewürzt und in ein sprühendes Feuerwerk der Sinne und Gesänge verwandelt. Die Komödie besiegt die Tragödie, der Scherz den Ernst, die Parodie das Original, die Travestie die Wahrheit. Allegorien des Spottes, des Spieles, der Torheit und des Wahnsinns beflügeln dabei ein bacchantisches Treiben, in dem der Gott des Weines selbst als barbusige Adipöse auftritt und sich vom Chor befingern lässt.

Die hyperbolische Sexualisierung der Stuttgarter Inszenierung tendiert stellenweise dazu, die Grenze zur Pornografie zu überschreiten, was der Ästhetik des Ganzen nicht gerade zuträglich ist. Die Opernbühne wird dabei zum Swinger-Club, in dem es jeder und jede mit jedem und jeder treibt. Nicht von ungefähr ließ sich die Kostümbildnerin Anna Eiermann von der Mode der 1970er Jahre und dem Ambiente des legendären New Yorker Nachtclubs „Studio 54“ inspirieren.

Aber auch noch in einem anderen Sinn präsentiert sich die Stuttgarter Inszenierung von „Platée“ als ein swingendes Barock. Rameaus Musik wird von dem britischen Dirigenten Christian Curnyn in einen leichten, entspannten Swing verwandelt, dessen jazzige Rhythmen die Choreografin Lydia Steier zur Einstudierung zahlreicher Tänze animierten. Der ohnehin glanzvolle Stuttgarter Opernchor besticht dabei nicht nur durch seinen wunderbaren Gesang, sondern begeistert zugleich als veritable Ballettkompanie, die den Rhythmus gelegentlich auch einmal mit den Füßen stampft.
Die Schönheit der Stimmen, des Chores wie der Gesangssolisten, versöhnt dabei mit manchem Schwulst und Bombast der Inszenierung, der sich stilistisch – und dabei durchaus in Konformität mit der Überladenheit des Barock – in Regie und Bühnenbild (Susanne Gschwender) manifestiert, man denke etwa an das erstmalige Erscheinen Jupiters, der auf einem Kronleuchter von oben herabschwebt und mit ihm die gesamte Lampenabteilung eines Großkaufhauses.

Sämtliche Solistenparts von „Platée“ sind in Stuttgart hervorragend besetzt. Allen voran glänzt Thomas Walker in der Titelrolle, aber auch Mark Milhofer begeistert stimmlich, mimisch sowie als Tänzer, nicht nur in der Rolle des Merkur, sondern vor allem im Prolog als Verkörperung des Tragödiendichters Thespis. Judith Gauthier leiht ihren herrlichen Sopran sowohl Amour, dem Gott der Liebe, als auch La Folie, der Torheit. Wunderbar die Szene, wo sie mit der E-Gitarre als Surrogat für Apolls Leier Lachen und Weinen, Kichern und Klagen gleichsam sekündlich ineinander übergehen lässt. Genial auch die Auftritte von Yuko Kakuta mit Schirm und Ringelstrümpfen als Platées Freundin Clarine, die genauso hinreißend singen wie krähen kann.

Überhaupt sind Tierstimmen in „Platée“ ständig präsent. Die Streicher imitieren das I-A des Esels, die Oboen quaken wie Frösche, andere Instrumente ahmen Vogelstimmen nach. Auch der Gesang folgt dieser sprechenden Logik des Naturlauts. So antwortet der Chor auf Platées Frage „Quoi?“ (Was?) mit einer Vervielfachung des Fragewortes, was in den Ohren der Zuhörer wie ein vielfältiges „quak quak“ wirkt. Und Thespis’ Koloraturen, die in schnellen Triolenfiguren auf den ersten Vokal des Wortes „rire“ (lachen) gesungen werden, klingen tatsächlich wie ein endloses „hihihi“. So machen Klang und Gesang, nicht zuletzt auch der Humor der Inszenierung, die Stuttgarter Version von Rameaus „Platée“ zu einem beachtenswerten Opernereignis.