Taumel und Triumph der Liebe

„Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss in der Stuttgarter Staatsoper

Der Stuttgarter „Rosenkavalier“ ist ein Fest für die Sinne. Die Inszenierung der Strauss-Oper durch den norwegischen Regisseur Stefan Herheim, der im Jahre 2008 Wagners „Parsifal“ auf die Bühne des Bayreuther Festspielhauses gebracht hatte, feierte in der baden-württembergischen Landeshauptstadt am 1. November 2009 Premiere. Die sehenswerte Inszenierung, für die Stefan Herheim in der Kritikerumfrage 2010 der Fachzeitschrift für Musiktheater „Opernwelt“ als „Regisseur des Jahres“ ausgezeichnet wurde, ist nun als Wiederaufnahme ins Repertoire seit Kurzem wieder im Stuttgarter Opernhaus zu erleben.

Die „Komödie für Musik“, deren Text von Hugo von Hofmannsthal stammt und die 1911 in Dresden uraufgeführt wurde, ist ein Welttheater der Moderne, ein Panoptikum des Fin de Siècle, dessen Rokokohaftigkeit, zwischen leichtem Spiel und tiefem Ernst changierend, gleichwohl auf den Untergang der k. u. k. Monarchie und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorausweist.

In der Herheimschen Inszenierung, deren szenische Einstudierung für die Stuttgarter Wiederaufnahme Anja Nicklich besorgte, wird dieses schillernde Kaleidoskop zwischen Walzerseligkeit und Existenzbedrohung, zwischen Amüsement und menschlichen Abgründen, überbordend, ja rauschhaft entfaltet. Eine entfesselte Bühne (Rebecca Ringst), grandiose Kostüme (Gesine Völlm) und eine geniale Regie (Stefan Herheim) nebst Dramaturgie (Xavier Zuber) machen den „Rosenkavalier“-Abend in Stuttgart zu einem einzigartigen Genuss, der sich nach Wiederholung sehnt.

Bereits der Beginn der Inszenierung schlägt Zuschauer und Zuhörer in Bann. Während zur Eröffnung die Jagdmusik des 18. Jahrhunderts erklingt, in die Richard Strauss nach und nach Streichermusik und Walzerklänge einwebt, sitzt die Marschallin an ihrem Schminktisch, der auf der Drehbühne scheinbar ewig kreist – und plötzlich durchstößt sie mit ihrer Faust die Fläche des Schminkspiegels: Das Glas zersplittert und mit ihm ihr Bild von sich selbst, ihre Jugend, ihre Liebe, ihre Welt!

Wenn dann die ersten Stimmen erklingen, ist die Welt, die symbolisch bereits in Trümmern liegt, allerdings noch heil. Die Marschallin liebt ihren Octavian, und der junge Liebhaber weiß im Taumel seiner Liebe nichts von deren tiefen inneren Bedrohungen, während ihre oberflächlichen äußeren Bedrohungen dann die Handlung in Gang bringen. In der Meinung, der Gatte der Marschallin stünde vor der Tür, verkleidet sich Octavian in seiner Not als Zofe, als die er sich dann den Nachstellungen des hereinplatzenden Barons Ochs auf Lerchenau erwehren muss. In dieser androgynen Doppelrolle ist Octavian sowohl Objekt der Begierde als auch Begehrender, der sich  als brautwerbender Rosenkavalier zu allem Überfluss auch noch in des Barons Braut Sophie verliebt.

Wie schon Augustinus in seinen „Confessiones“, so philosophiert auch die Marschallin im „Rosenkavalier“ über die Zeit, die „ein sonderbares Ding“ sei: „Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.“ Stefan Herheim hat in der höchst aktiven Drehbühne eine augenfällige Metapher für dieses ewige Kreisen der Zeit gefunden, das in seiner ewigen Wiederkehr gleichwohl Raum bietet für ihre augenblickshafte Durchbrechung. Hofmannsthal hat diese Zeitstruktur auf geniale Weise in seiner „Rosenkavalier“-Dichtung selbst verankert: Die Marschallin musste, in der Vergangenheit, als junge Frau einen älteren Herrn heiraten, und Sophie, die den Baron zu ehelichen bestimmt ist, soll nun, in der Gegenwart, just dasselbe widerfahren. Doch in einem triumphalen Augenblick wahrer Liebe durchbricht die Marschallin dieses sich wiederholende Schema, indem sie ihrem jugendlichen Liebhaber entsagt, weil sie ihn so sehr liebt, dass sie auch noch dessen Liebe zu einer anderen Frau zu lieben imstande ist. Ob sich Octavian in der Zukunft dieser Liebe als würdig zu erweisen vermag, oder ob er sich nicht doch vielleicht früher oder später zu einem immer zum Seitensprung bereiten Lerchenauer wandelt, liegt freilich jenseits der Grenzen dieses Musikdramas.

Im Rückgriff auf die große Bedeutung der Dionysos-Figur im Oeuvre Hofmannsthals gestaltet Stefan Herheim den Baron Ochs auf Lerchenau (Friedemann Röhlig), der zudem ins Teuflische changiert, als den antiken Gott der Ekstase, in dessen Gefolge die Lerchenauer als nackte Satyrn mit überdimensionalem hängendem Geschlecht, das sich gelegentlich im Stile antiker Hermen phallisch erhebt, auf die Bühne gebracht werden.

Den apollinischen Gegenpol bilden die beiden Protagonistinnen, die erfahrene Marschallin (Michaela Kaune) und die unerfahrene Sophie (Lenneke Ruiten), die in beseligenden Klängen schwelgen, in die sie dann auch noch die dritte Frauenstimme, den Grafen Octavian (Marina Prudenskaya) in einer Hosenrolle, harmonisch mit einbeziehen. Genial ist auch die Regie des Opernschlusses. Während die besagten drei Frauenstimmen die apollinische Liebe besingen, taumelt die von Stefan Herheim geschaffene Kunstfigur des dionysischen Pan (Thomas Schweiberer) in herrlicher Choreografie konvulsivisch-zuckend über die Bühne, bis sie endlich das Schlussrequisit, ein weißes Taschentuch, ergreift, es in die Höhe wirft und dann selbst in sich zusammensackt, von der Macht Apolls endgültig besiegt.

Das tragikomische Geschehen dieser Oper, das bereits in der Hofmannsthalschen Dichtung eine Überfülle von Dramenfiguren aufbietet, wird in Stuttgart durch Bühne, Kostüme und Regie an Einfallsreichtum noch um ein Vielfaches überboten. Kulissen mit kulturgeschichtlichen Reminiszenzen (Karl Friedrich Schinkels Bühnenbilder für Mozarts „Zauberflöte“, Gemälde von Hans Makart), Kostüme von skurril-berückender Schönheit (Herr von Faninal ist als Gockel gekleidet, Valzacchi wirkt wie eine Figur aus Oskar Schlemmers Triadischem Ballett, und ein riesiger Vogel Strauß setzt der Marschallin ein Straußenei auf den Kopf) und eine durch ständige Verwandlungen entfesselte Bühne machen den Stuttgarter „Rosenkavalier“-Abend zu einem unvergesslichen Erlebnis, bei dem – ganz im Sinne Hofmannsthals – einzelne Momente plötzlich Dauer gewinnen: etwa wenn der Notar beim Wort „Morgengabe“ zu Boden stürzt und die Bühnenfiguren für einen langen Augenblick plötzlich erstarren; wenn die Marschallin als Dea ex machina höchst barock von oben aufs Bühnenparkett herniederschwebt; wenn der als k. u. k. Militär eingekleidete Kinderchor die Worte „Papa, Papa“ kräht; oder wenn sich die mit Sängern und Statisten bevölkerte Wand der Hinterbühne plötzlich in einzelne Quader auflöst, die sich dann im Walzertakt um sich selbst drehen.

Eingefasst wird das Schmuckstück dieser Inszenierung durch die gewaltigen Stimmen des Staatsopernchores und die differenziert agierenden Instrumentalisten des Staatsorchesters Stuttgart, die die allesamt hervorragenden Solistinnen und Solisten dieses Opernabends am 10. Mai 2015 zur unvergleichlichen Musik von Richard Strauss hingebungsvoll begleiteten.