Über die wahre Wucht des Lebens...

Eine Banater Familienchronik zwischen Weltkriegen und Kommunismus


1772. Der Elsässer Georg Pfaffenrad, der zu seinem Bruder nach Großdorf unterwegs ist, bändelt auf der Ulmer Schachtel, die ihn in ein neues Lebensabenteuer führt, mit einer blutjungen Landsmännin an. Bis sie nach zweieinhalb Wochen ankommen, sind sie sich einig: Georg und Maria heiraten in der neuen Heimat, in Triebswetter im Banat. 

Das Liebesglück hat durchaus eine praktische Seite: Georg, 25, braucht eine tüchtige Frau für den dort aufzubauenden Hof. Und Maria, junge Witwe und ehemaliges Dienstmädchen, will nicht von ihren Verwandten abhängig sein.

Zeitsprung nach Großdorf, 1898: Erst Maria, dann Anna, dann Marianne - was liegt näher als Name für eine Pfaffenrad-Tochter in der dritten Generation? Auf einem Dorfball begegnet die 18-jährige Marianne dem schmucken, aber etwas schüchternen Hobby-Akkordeonspieler Georg Renault, Schlossersohn in dritter Generation und seinerseits Schlosser. Auch seine Vorfahren sind 1772 aus dem Elsass nach Triebswetter eingewandert. Der junge Mann ist auf Brautschau. Nur wenig später hält er um die Hand der vor Glück bebenden Marianne Pfaffenrad an. Häuschenbauen, beruflicher Aufbau, Kinderglück. Laue Abende unter den Akazien, die die Banater Dorfstraßen säumen. So vielversprechend beginnen viele Liebesgeschichten... Doch das glückliche Ende ist nur im Roman garantiert und auch dies nicht immer, denn die als solcher erschienene Banater Familienchronik „Unter den Akazien“ von Magdalena Binder beruht auf einer authentischen Geschichte. Marianne Pfaffenrad, verheiratete Renault, war die Großmutter der Autorin. Die übrigen Namen sind frei erfunden, die Charaktere der Wahrheit entlehnt und das Schicksal der Familie, das drei weitere Generationen umfasst, klingt so authentisch wie nur das Leben schreiben kann: Erster und Zweiter Weltkrieg. Enteignung der Felder und Häuser der Deutschen. Deportation in die ehemalige Sowjetunion. Erzwungener Eintritt in die Kollektivwirtschaft. Hungersnot. Abwanderung nach Amerika. All dies muss Marianne in einem einzigen Leben verkraften. 

Das Schwerste: Ihr Mann Georg kommt schon aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurück. Sie bleibt allein mit ihren vier Kindern. Marianne hat nicht viel Zeit zum Hadern. Der Tag füllt sich mit Arbeit, der Schlaf der Nächte ist kurz. Die Stämme der Akazien vor den Häusern, die so manchem  Dorfklatsch lauschen und unter denen so manches Leid geteilt wird, werden mit jedem Jahr dicker. Fest krallen sich die knorrigen Bäume in den sandigen, trockenen Tonboden, wie ähneln sie doch mit ihren derben Stacheln und zarten Blüten dem Leben!

Die erste Generation Kinder: Gyuri und Niklos, Anna und Marie könnten nicht verschiedener sein. Zwei versuchen ihr Glück in Amerika, Marianne sollte sie nie wiedersehen. Nach der „braunen Gefahr“ und einem zweiten zermürbenden Weltkrieg wünschen sich die Banater Schwaben in Großdorf nichts sehnlicher als endlich Frieden. Fast kehrt ein wenig Wohlstand in der Familie ein. Niklos bewährt sich als Schlosser, Marie betreibt eine weithin bekannte Nähstube, da stellt ein Bombenangriff das Familienglück auf eine harte Probe... Bald darauf müssen die beiden Geschwister nach Russland, Aufbauarbeit leisten für das, was die Deutschen zerstört haben. Andere Deutsche. Blutschuld. 

Niklos versteckt sich, er will die Mutter nicht alleine lassen. Wer soll sonst die Familie ernähren? Doch schließlich kann er nicht zulassen, dass statt ihm sonst seine 16-jährige Tochter gehen müsste. Marianne bleibt allein mit den Enkelinnen zurück. Wird sie ihre Kinder je wieder sehen? 

Vier lange Jahre später: Die Freude über die Rückkehr aus der Deportation währt für Marie und Niklos nur kurz. Der Zug bringt sie statt in die Heimat in ein Auffanglager nach Deutschland. Keine Pässe – keine Ausreise. Auf abenteuerliche Weise kämpfen sie sich zu Fuß ins Banat zurück. Trügerisch ist die Wiedersehensfreude, noch einen unerwarteten Tod muss Marianne verkraften, während Niklos und Marie zaghaft wieder ihre Lebenslust entdecken. Nur wenige Tage, nachdem Marie ihrer Mutter von ihrer Schwangerschaft verrät, haucht diese auf dem Sterbebett zum letzten Mal den Namen ihres Mannes Georg. Und das Karussell des Lebens dreht sich weiter.

Die Autorin dieses bewegenden Familienromans, Magdalena Binder, wurde 1948 in Deutsch-Sanktpeter geboren – zu der Zeit, zu der ihre Familiensaga endet. 

Während des Schreibens, verrät sie im Nachwort, sei ihr ihre Großmutter Marianne Pfaffenrad „so nahegekommen und lebendig, dass ich dachte, ich hätte selbst in jener fernen Zeit gelebt“. Genau dies ist es, was der Roman vermittelt, eine historische Lektion, hautnah nachfühlbar: Wie die aus der Geschichte wohlbekannten Ereignisse eines nach dem anderen mit voller Wucht in der Seele einschlagen und dort eine tiefe, zusammenhängende Spur hinterlassen - von Marianne, Georg, Anna, Gyury, Marie, Niklos und ihren zahllosen Zeit- und Leidensgenossen, deren Namen wir nie erfahren... 


„Unter den Akazien“, Magdalena Binder, Anthea Verlag, Berlin 2021, ISBN 978-3-89998-378-4