Über Till, meine Tante

Lesespaß

Es ist schon spät und wird so kalt. Ich steh allein im finstern Wald. Das ist der Wald der Erinnerungen. Hier liegen tief verborgene Gefahren und verlorene Schätze. Um sie zu finden, darfst du nicht suchen. Barfuß und barhaupt geh…  dann kommen die Wege auf dich zu. Vor vielen Jahren stand hier der alte Wohnwagen meiner Tante Till. Die Zeit hat ihn längst zerkaut und verdaut.  Doch bevor der Vorhang fällt, will ich sprechen. Aber Till wehrt ab, unwiderrufliche Resignation in Stimme und Geste:  „Lass ruhen, mein Kind, lass ruhen!“ Heute lebt kaum ein Mensch, der von ihr erzählen könnte, von ihrem Leben, Worten und Taten, die doch so kostbar sind, wie jene aller linkshändigen Streiter Gottes mit dem Herzen am rechten Fleck.
Till und mein lieber Vater Dolf waren die letzten von sieben Kindern meiner Großeltern. Der alte Hienz pflegte zu sagen: „In jeder kinderreichen Familie gibt es auch ein schwarzes Schaf. Nur in meiner sind es zwei“. Die beiden jüngsten, Dolf (geb. 9.12.1897) und Till (geb. 11.8.1899) pflegten eine treue Verbindung über lange Jahre und ferne Länder hinweg. Konventionen waren ihnen beiden unverständlich.  Dolf schoss aus dem Klassenzimmer mit der Zwille während des Lateinunterrichts auf Tauben im Schulhof. Till trug Männer-Haarschnitt und Hosen.  In Agnetheln/Agnita, wo sie weben lernte, hielt der Meister sie für einen braven Burschen.  Ihre Mutter war entsetzt, als Till eines Tages das Experiment „tags schlafen, nachts wachen“ einführte. Die Lilli-Omama war eine strenge Frau. Z. B. hielt sie das Tragen eines Büstenhalters für verpflichtend, und Till gehorchte, indem sie den blöden Büstenhalter auf der Bluse trug. Ihre großen Schwestern, die sehr schöne Regine (Jini) und die humorvolle Hanni, sollten Handwerker heiraten, wie es sich für Töchter eines Gerbers schickte. Hannis Mann, Kessler, war ein gutmütiger Fleischhauer, später Salamifabrikant, und ein staunenswert altertümlicher Mensch. Als seine Frau in den Geburtswehen lag und eine von der Nachbarin herbei gerufene Hebamme nachts ans Fenster klopfte, um nach der Wöchnerin zu fragen, steckte er den Kopf zum Fenster hinaus und sagte abwehrend: „nicht hier, nicht bei uns“, weil er sich so schämte. Die ältere Schwester, die schöne Jini heiratete, dem Wunsch des Vaters gehorchend, einen Mann, Ferentzi, der, nachdem er in die Familie und in den Betrieb der Lederfabrik eingeführt worden war, diese in ruinöse Schieflage brachte. Man mied die „Schande“, zum Gericht zu gehen und wollte auch die hohen Prozesskosten vermeiden, um das Vermögen nicht aufzuzehren. So verkaufte man einen Teil der Fabrik, um reinen Tisch zu machen und um sie wieder in die Hände der Familie Hienz zu bringen. Till hatte schon früher, als ihr ein handgeschriebener Zettel des neuen Schwagers Ferentzi vor Augen kam, ausgerufen: „Es ist die Schrift eines Betrügers, eines Räubers“. Nur mein Vater Dolf hat Rache genommen und ihn zu Fall gebracht, indem er ihm mit dem Fahrrad frontal in den Bauch fuhr.  Geschichten, Geschichten… sie ziehen dich weiter und führen dich vom Weg ab. Meine sehr liebe und klare Freundin, Ilse, der ich meine Nöte beim Schreiben klagte, riet mir: „Du musst zuerst ein Narrativ suchen und alles ihm unterordnen“. Dabei bedachte sie nicht, wem dieser Rat helfen sollte. Ich jedoch kann zwar suchen, aber nicht finden und am besten kann ich verlieren… Nun, mein gestrenges Narrativ will ich mit einer weiteren Familien-Moritat fortfahren. Die geht so: Lilli-Omama hatte einen hohen Geburtstag und sollte von ihren Söhnen, Fritz, Rud und Dolf ein prächtiges Geschenk erhalten. Man gab das Knüpfen eines großen Teppichs nach persischem Vorbild in Auftrag. Die Knüpferin aus Heltau/Cisn²die schuf eine sehr gelungene Kopie eines „alten Persers“. Es war ein wertvolles, repräsentatives Geschenk und verblieb schließlich nach Lilli-Omamas Tod (1942) bei dem ältesten Sohn Fritz. Der war nach langen Jahren der Abwesenheit zum Haupt der Familie geworden. Im Ersten Weltkrieg geriet er in russische Gefangenschaft. Für die junge Sowjetregierung hat er Gerbereien aufgebaut und dafür sogar ein anerkennendes Dankesschreiben der Regierung erhalten. Dann ging er nach China. Von dort kam er über Land- und Meer-Wege wieder nach Europa.Das ist jedenfalls die Überlieferung. In Irkutsk am Baikalsee hatte Fritz seine Frau Ludmila, eine jüdische Russin, kennengelernt. Die Heimkehr mit Frau teilte er seinem Vater brieflich mit. Dieser schrieb zurück: „Wonn ta kaust, loss se do.“ Milatante muss sich in unserer Heimatstadt und unserer Familie wie in einem Kühlschrank gefühlt haben. Ihre Schwiegermutter, die strenge und gerechte Lilli-Omama, war von der notorischen Untreue ihres Sohnes so bedrückt, dass sie immer mehr verstummte. Milatante hatte schließlich unsere Sprache gelernt, aber Bachs Musik klang ihr „wie die Wolfen“.  Als ihre Tochter Ella herangewachsen war, sangen die beiden wehmütige russische Lieder mit ihren sehr zarten und reinen Stimmen. Ihre Lieder haben wir Schwestern, Katharina und Johanna, übernommen. Bei dem großen Geschenk war Milatante jedenfalls höchst geschickt. Sie hatte heimlich und vorsorglich den Namen ihrer Tochter Ella in eine Ecke des Teppichs einweben lassen. Somit war zum Erstaunen aller die Erbin festgelegt. Ach, die Familie, meine Familie!  Sie war ein Treibhaus unterschiedlicher Gewächse, und sie brachte auch zwei kostbare Halme hervor: Dolf und Till, die Fremdlinge im eigenen Haus. Schon als Kind war Till sehr empfindlich gegen Ungerechtigkeit, Gorki nennt das „ein gehäutetes Herz“. Immer musste sie für die Schwachen eintreten, für Hunde und Kinder, Bettler und Krüppel, deren es nicht wenige gab in  Hermannstadt/Sibiu. Es bedrückten sie aber auch jene Benachteiligten wie Dienst-Mägde, Wäscherinnen und Tagelöhner, deren niedrige Stellung in unserer Gesellschaft als völlig angemessen empfunden wurde. In den 20er Jahren war Till militante Pazifistin („ich wäre gerne Kriegsminister, damit ich jeden Krieg verliere, bevor er beginnt“) und bekennende  Antifaschistin. Als sie einmal von einer Bekannten erfuhr, dass der kleine Willi nach Misserfolgen die Schule an den Nagel gehängt, aber zum Glück einen Ausbildungsplatz bei der Bundeswehr bekommen hatte, da meinte sie: „Er wird also Mörder studieren“. Meine Till gehörte zeitlebens immer zur Infanterie, niemals saß sie hoch zu Ross. Eine gewisse Anarchie bleibt der „basso continuo“ ihres Lebens.Ich habe sie erst nach meiner Ausreise aus Rumänien richtig erlebt. Zwischen Till und meinen Mann entstand sogleich eine große Freundschaft. Sie fielen einander in die Arme wie Kumpel nach langer, sinnloser Trennung. Einmal, als Till bei uns in München war, stellte er unpassende Gläser zu einer edlen Flasche und ich entschuldigte mich dafür. Darauf Till: „Keine Sorge, ich trinke Hennessy auch aus der Konservendose“, um gleich noch eins drauf zu setzen: „Die Seele schwingelt sich empor, juche,  der Leib liegt auf dem Kanapee“.  Nach einem Besuch bei Grete Csaki kam Till nach Worpswede. Sie kanntedas Haus im Schluh schon seit 1929, wo sie bei der Familie Vogeler in der schlimmsten Zeit der Krise wohnte. „Damals wurden die Zigaretten-Kippen nach Zentimetern, nicht mehr nach Stückzahl gehandelt“, erzählte Till. In der Weberwerkstatt im Schluh sollte Till nach Grete Csakis Entwürfen Gobelins herstellen. Diese wurden in Ausstellungen, z. B. im Jahre 1958, gezeigt, und sind schließlich abhanden gekommen. „Nicht verloren, sie haben den Besitzer gewechselt. Lass ruhen, mein Kind, lass ruhen“. Mit diesen Worten des Verzichts und der Resignation hat Till Abschied genommen von ihrem einzigen Werk und die Freundschaft zu Grete gehalten. Als wir sie in den 1960-er Jahren in Worpswede im Schluh besuchten, hieß die Wirtin Mascha Vogeler. Während des Frühstücks erzählte sie uns, Frauen seien bis gut über das Alter von 60 Jahren „mannbar“. Wir haben hier allerdings nur eine Mannsgestalt gesehen. Er war groß und stark, schweig- und arbeitsam. Es war Maschas Neffe Martin, „der muntere Seifensieder oder das Volkslied“, wie Till sagte. Die Knaben, die man manchmal traf, gehörten zur Suite des Herrn Hans Hermann Rief. Dieser Intellektuelle pflegte den Ruf und das Image des Schluh als Zentrum der Kunst und führte das Archiv des Ortes Worpswede. Er wohnte in einem kleinen Haus mit einem kleinen Fenster, darin standen kleine Fläschchen erlesenster französischer Parfüms. Jean Cocteau hat ihn einmal besucht. Als er meiner Till ansichtig wurde, grüßte er: „Bonjour Monsieur“, worauf Till artig antwortete: „Enchanté, Monsieur“.  In Worpswede war Till mit der Ärztin Ruth Büttner befreundet. Sie war eine hervorragende Persönlichkeit und sehr tapfer. Als die siegreichen Amerikaner 1945 vor Worpswede standen, stärkte sie sich mit einer Dosis Morphium und fuhr den Soldaten mit einer weißen Fahne entgegen. So erreichte sie die friedliche Übergabe des Ortes. Sie starb 1978 und Till trug lange Trauer. 

Schon im Herbst 1964 hatte Till uns im Lager Ludwigsfeld bei München besucht, wo wir und allerlei andere Flüchtlinge in Baracken untergebracht waren. Unser Hanns ging dort in den Kindergarten. Sein Lieblingsspielzeug war ein Stoffhase, an dem aber auch das Herz eines kleinen Kirgisen hing. Die Kindergärtnerin hatte ihre Freude an den zwei hübschen Buben, dem schlitzäugigen Dschingis in den bayerischen Lederhosen und dem schwarzäugigen Hanns mit den langen Wimpern, die jeweils an einem Ende des Hasen zogen. Unseren beiden Kindern, Marie und Hanns, hatte Till aus Worpswede zwei kleine Melkschemel mitgebracht und später schickte sie für Hanns sogar ein kleines Fahrrad, das sie im Wald gefunden hatte, und welches er sogleich in Besitz nahm, als hätte er es längst erwartet. So schöne und passende Geschenke! Andere folgten auch für uns, die Eltern: Brechts „Mahagonny“ und die Erzählungen von Kusenberg. Bei Marie haben sie auch großen Anklang gefunden. Es ergaben sich nicht oft, eher zufällig, Wege, meine Till für etwas Neues zu erwärmen. Sie befand Brahms sei ein Kaffeehaus-Musiker und Tschaikowsky gar der Chiang-Kai-shek. Janosch, durch unsere Erzählungen neugierig geworden, besuchte Worpswede, und die Schluh-Leute wollten ihn gleich eingemeinden. Die militante Till der 30er Jahre war milder geworden und der Clown in ihr kam häufiger zu Wort. Einmal kam sie aus Worpswede zu uns mit ihren beiden kleinen Pekinesen, Pitten und Sissi, in der Reisetasche. „Sie waren schon bei Kaisers, als wir noch in den Bäumen saßen“. Meinem Hanns waren die Köter nicht geheuer, er trat vorsichtig ein wenig zurück, worauf Till sagte: „Der arme Pitten fürchtet sich vor Kindern, denn es hat ihn einmal ein Kind gebissen“. Natürlich wurde aus dem ängstlichen Hanns sogleich ein tröstender und sogar vierbeiniger Hundefreund. Tills Rückfahrt nach Worpswede, allein mit den beiden Hunden, war nicht einfach. Ich hatte vorsorglich bei der Bahnhofsmission in Bremen angerufen und um Hilfe für eine kleine, alte Frau gebeten, die in den Bus nach Worpswede umsteigen sollte. Es klappte vorzüglich. Till berichtete später: „Es kamen zwei sehr lange Polizisten auf mich zu und fragten: „Dürfen wir Ihnen behilflich sein?“ Einer trug meinen Koffer und die Reisetasche mit den Hunden, der andere führte mich am Arm zum Bus, und als der Bus abfuhr, salutierten sie“. Till klang sehr vergnügt und schloss mit den Worten: „Die Polizei – dein Freund… und Feind!!!“. Es gab einen Satz von Till: „Ich habe den Jagdschein“. Das konnte man nur richtig verstehen, wenn man auch ihre warnende Stimme hörte. Es bedeutete: „Hütet euch, ich bin nicht mehr strafbar und könnte versehentlich aus der Hüfte schießen“. Verzeih, meine Till, das Unverzeihliche!  Mir sind die Erinnerungen aus dem Ruder gelaufen. Zu viele Anekdoten haben sich aufgedrängt, zu viele Sprüche eingeschlichen und das Bild Deiner schlichten, asketischen Person entstellt…   

Till hat Besitz gescheut, wie der Teufel das Weihwasser. So hat sie mir auch nichts hinterlassen: keinen Löffel, keine Socke, keinen Zettel mit letztem Wunsch …Nun, die Welt kann weiter schaukeln und schwindeln. Sie wird dabei ohne meine Till auskommen, ohne die aufrechte Streiterin: Das Schwert in der Linken und am rechten Fleck das Herz.

Wenn offiziell Auskunft über ihre Person verlangt wurde, meldete sie: „Ich heiße Hienz, wie Kunz, und Till, wie Eulenspiegel“.

Johanna Letz