Versteckte National-Hymne

Clara Schumanns Opus 9 verbindet uns mit Wien

Clara Schumann Foto: Wikimedia Commons

Der Alte Friedhof in Bonn wird von Auto-Verkehr umschäumt sowie vom ratternden Rauschen der ICE-Züge, die von Dortmund gestartet sind und nach Süden wollen, nach Frankfurt am Main, Mannheim, Basel oder zurück in die Domstadt Köln.

Die 1715 eingerichtete Ruhestätte lag einst außerhalb der Stadtbefestigung. kaufte Grund und Boden auf und ließ einen Friedhof anlegen „vor gemeine Einwöhner, paßanten und Soldaten.“ Sein Nachfolger Clemens August musste zehn Jahre später 1725 dem Hohen Weltgericht von Bonn befehlen, dass „hinführo alle verstorbenen Soldaten, arme Leuth, Fremde, Auswendige“ dort in die Erde sinken sollten. Ein Soldaten- und Armenfriedhof also, eigentlich nichts für Leute von Stand, wenngleich der Kommandeur des grünen Dragonerregiments Stephanus Chevallier de Chambellé schon 1725 verfügte, dort begraben zu werden, auf dem Friedhof vor dem Sterntor. Die französische Besatzung und so das napoléonische Décret sur les sepultures vom 12. Juli 1804 ordneten das Friedhofwesen im Rheinland neu und so auch für den Alten Friedhof. Park- und Gartenbaustrukturen fanden nach Erweiterungen um 1840 Eingang in die Gestaltung, in die sich der in Bonn geborene und in Potsdam wirkende Gartenbau-Architekt Peter Josef Lenné einbrachte. Der königliche Bauinspektor Johann Claudius von Lassaulx sorgte dafür, dass 1846/47 die Georgenkapelle in den Friedhof integriert wurde. Seitdem entdeckten auch die Betuchten, Patrizier und andere Leute von „Stand“ diesen von Bäumen und Wegen gestalteten Friedhof; hier konnte man nun liegen, ohne sich „gemein“ zu machen.

Friedhöfe laden ein zu Seelenwanderungen, zu den Leben der Verstorbenen und zu dem Leben, das man Gott anvertraut und bei dem man Aufnahme finden will in der „Ewigen Heimat“. Die Lyriksammlung „Das Jahr der Seele“ ist nicht in Bonn entstanden, man meint aber, ein Gedicht daraus schmiege sich an diesen Gräberpark an, es sei den Gräbern zugewandt in Versen von grandioser Schönheit, geschrieben vom 1868 im rheinischen Bingen geborenen und 1933 in der Schweiz verstorbenen Dichter Stefan George:

Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade
Dort nimm das tiefe gelb das weiche grau
Von birken und von buchs der wind ist lau
Die späten rosen welkten noch nicht ganz
Erlese küsse sie und flicht den kranz
Vergiss auch diese letzten astern nicht
Den pupur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht


Wie schön dieses Dichter-Deutsch, wie anmutig der Blick ins Verblühen, Vergehen, das in weicher Wortmusik ins Trösten mündet, in Schönheit. Der Tod ist ein Schimmer ferner lächelnder Gestade. Und er ist nah, als ob er Platz genommen habe vor den Grabsteinen, als ginge von diesem noch Verglimmen aus, als wäre noch Licht, noch Wärme bei jenen, die hier liegen - erwärmt von Erinnerung und Gedächtnis.

Wer in Bonn an Musik denkt, spricht den Namen Ludwig van Beethoven aus. Er liegt hier nicht unter der Erde, erblickte die Welt aber in Bonn. Und wer hat ihn geboren, der nach Johann Sebastian Bach größte Schöpfer der Musik? Maria  Magdalena van Beethoven (1746 – 1787). Im Alten Friedhof liegt ihr Grab.

Mit 16 Jahren musste der Sohn von ihr Abschied nehmen. In einem Brief schrieb er:  „Sie war mir eine so gute liebenswürdige Mutter, meine beste Freundin; O!, wer war glücklicher als ich, da ich noch den süßen Namen der Mutter aussprechen konnte, und er wurde gehört, und wem kann ich ihn jetzt sagen? Den stummen ihr ähnlichen Bildern, die mir meine Einbildungskraft zusammensetzt?“

Die stummen Bilder vermitteln sich auch in den Grabsteinen. Im Erinnerungsstein der Mutter Beethovens liegt Wärme, die nach Wien führt, wo ihr Sohn 1827 begraben wurde, zunächst auf dem Währinger Friedhof und dann seit 1888 mit neugestaltetem Grabstein auf dem Zentralfriedhof, rechts neben ihm das Grabmal von Franz Schubert. „Beethoven“ steht auf der weißen Stele. Eine ganze Welt. Das letzte Hier-bin-ich.

Mit Beethoven wird fast immer das Klavier gleichgesetzt, die fünf Klavierkonzerte und vor allem die 32 Klaviersonaten, zu denen Jahrhundertpianist Wilhelm Backhaus (1884-1969) einmal sagte „Hätte Beethoven nur 16 Sonaten geschrieben, wäre mein Leben anders verlaufen“, ein Satz, den wohl viele Klaviervirtuosen unterschreiben würden. Aber dass das Genie aus Bonn wie Mozart auch Geige spielte, ist nur wenigen bewusst. Der in Bonn geborene und gestorbene Franz Anton Xaverius Ries (1755-1846) galt als Wundergeiger, der nach Studienzeiten in Wien bei seiner Rückkehr 1791 zum „Direktor der kurfürstlichen Musik“ in Bonn befördert wurde. 1785 und 1786 unterrichtete er Ludwig im Geigenspiel und spielte mit ihm in der Hofkapelle. Eine Freundschaft entstand, die später bis nach Wien reichte. Im Alten Friedhof liegt Beethovens Geigenlehrer begraben.

Was diesem totgesagten Park am Ehesten den Schimmer ferner lächelnder Gestade vermittelt, ist das Epitaph von Robert und Clara Schumann. Die in Leipzig 1819 geborene Clara (geborene Wieck) verstarb hochbetagt im Jahre 1896 in Frankfurt am Main, überlebte ihren innig geliebten Ehemann Robert (1810-1856) um 40 Jahre. Verehrung und Genie haben Schumann zum Tondichter erhoben, ein romantischer Begriff, der jedoch, wenn überhaupt bei Schumann Berechtigung hat, schöpft doch seine Musik nicht nur aus musikalischen Quellen und sind Empfindung und Ausdruck wesentliche Mittel seiner Tonsprache, sondern nimmt er aus Figuren der Literatur (so von E.T.A. Hoffmann im Stück „Kreisleriana“, op. 16) unmittelbaren Bezug zu Romanszenen. Zudem sind auch seine Spielanweisungen – nicht nur in den „Kinderszenen“ – voller Poesie und so von sprachlicher Präzision. Schumann, der erst Jura studierte (in Heidelberg) wurde im sächsischen Zwickau geboren; in Dresden und Leipzig fand er zu sich als Musiker und Komponist. Dem Ruf ins rheinische Düsseldorf (von 1850 bis 1856) folgte er aus Karrieregründen, denn dort sollte er als Musikdirektor Chöre und Orchester dirigieren. 1853 leitete er  das Rheinische Musikfest zusammen mit Ferdinand Hiller. Sein Leben im Rheinland endete in Bonn-Endenich in einem Pflegeheim. Sein Gehirn war zerstört,  wohl als Spätfolge einer über viele Jahre eingekapselten Syphyliserkrankung.

Schumanns gefühlsstarke, oft in poetischen Zyklen strukturierte und meist „erzählende“ Musik wird mit am meisten in den Konzertsälen aufgeführt und in den Funkmedien wiedergegeben, vielleicht auch, weil die Romantik gerade wiederentdeckt wird, wie auch die Studien von Rüdiger Safranski „Romantik. Eine deutsche Affäre“ (2007) und Rüdiger Görner „Romantik. Ein europäisches Ereignis“ (2021) nahelegen. Er lebt und liebt fort in seiner Musik, die zurecht als Tondichtungen bezeichnet werden. Er war eine Doppelbegabung in Literatur und Musik (sein Vater war Verleger in Zwickau) und so der Intellektuelle der Romantik, ein umfassend gebildeter Tonsetzer.

Sein Werk verdunkelte viele Jahrzehnte das Oeuvre seiner Frau Clara, die eher als Meisterpianistin und Interpretin von Robert Schumanns Kompositionen gesehen wurde. Erst in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird Clara Schumanns kompositorisches Schaffen gewürdigt, erforscht und vor allem aufgeführt. Und zugleich wurden die künstlerischen Werke anderer Komponistinnen ins Licht und auf die Podien geholt, so beginnend mit Hildegard von Bingen (1098-1179) zu Fanny Hensel-Mendelssohn (1805-1847), die stets im Schatten ihres Bruders Felix stand, nach Julie von Webenau (1813-1887), Emilie Mayer (1812-1883), Mélanie Hèlène Bonis (1858-1937), Cécile Chaminade (1857-1944), Lili Boulanger (1893-1918) bis zu Ursula Mamlok (1923-2016), Violeta Dinescu (geboren 1953) und Sarah Nemtsov (geboren 1980). Eva Weissweiler hat 1999 in der Studie „Komponistinnen vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ den Bogen über 500 Jahre gespannt.

Das Schumann-Grabmal wurde 1880 errichtet von Adolf Donndorf und im Rahmen eines Musikfestes zu Ehren von Robert Schumann enthüllt. Seine Witwe war zugegen zusammen mit Roberts und Claras Fast-Geliebtem Johannes Brahms (1833-1897). Zwei Engelputten – die eine spielt Geige und die andere liest (!) – sitzen dem Halbrelief von Schumann zu Füßen, darunter eine schöne Frau, die einen Lorbeerkranz in Händen hält und den „Tondichter“ schmachtend anhimmelt: Weißer Marmor, so auch der Schwan, der unter Schumanns Bild zu fliegen scheint.
Das Grabmal, in das Schumann von einer bescheidenen Grabstätte im Alten Friedhof 1880 in das einem Altar ähnliche Monument umgebettet wurde, welches dann 1896 auch Clara aufnahm, ähnelt sehr dem Epitaph von Heinrich Heine, dessen Gedichte in Schumanns Zyklus „Dichterliebe“, op. 48 aus dem Jahre 1840  zum Höhenflug des Kunstliedes wurden.

Wo wird einst des Wandermüden
Letzte Ruhestätte seyn?
Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?


Diese Heine-Verse (aus dem Gedicht „Wo?“) liest man in Paris, auf dem Friedhof Montmartre, unweit der schlichten Grabstätte von Hector Berlioz. Fern vom Rhein, fern von seiner Düsseldorfer Heimatstadt, liegt der bedeutendste deutsche Lyriker. Auch hier schaut der Kopf des Wort-Dichters in weißem Marmor auf den Ankömmling, 1901 geschaffen vom dänischen Bildhauer Louis Hasselriis.

Die Schumanns liegen am Rhein, waren aber dort nie so recht zu Hause, auch wenn es kein Exil war wie bei Heine, doch die rheinische Lebensart, das ständige Sowohl-als-Auch sowie die bier- und weinselige Beschwingtheit der Rheinländer waren für die eher ernsten Sachsen Hypotheken. Ihr wirkliches Zuhause lag indes in den Gefilden der Musik sowie in den Musik-Städten wie Elberfeld, Dresden, Leipzig, Hamburg, Paris, Sankt Petersburg und besonders in Wien. Dort wohnte der Komponist in den Jahren vom Oktober 1838 bis April 1839 (es entstanden die so schumannschen innigen Charakterstücke „Kinderszenen“ op. 15, „Arabeske“ op. 18, „Blumenstück“ op. 19, „Humoreske“ op. 20 und „Faschingsschwank aus Wien“ op. 26, in dem er von der Zensur unbemerkt die revolutionäre „Marseillaise“ zitiert).

Es folgten die Wintermonate von 1848/49, dann zusammen mit Clara, die konzertierte. Für Clara war Wien ein Fixpunkt, dort wurde sie begeistert gefeiert bereits im Jahre 1838, noch vor der von ihrem Vater grimmig befehdeten Eheschließung mit Robert und vor dessen erstem Wien-Aufenthalt. Und sie komponierte, auch in Wien, später durchaus wohlwollend begleitet von Robert. Und in Wien entstand ein Klavierstück, das uns im Jahre 2022 besonders vertraut ist, nein: nicht das ganze Stück, jedoch das Thema, das so gekonnt virtuos umspielt, variiert und paraphrasiert wird. Es heißt „Souvenir de Vienne“ und wurde 1838 veröffentlicht als ihr Opus 9. Dem lag bereits ihr Klavierkonzert in a-Moll op. 7 vo-raus, das sie als 14/15-Jährige geschrieben hatte.

Clara Wieck (die Ehe mit Robert wurde erst 1840 gerichtlich erfochten) nannte es „Impromptu pour le pianoforte“, mit der Satzbezeichnung „Adagio quasi fantasia“.

Was das Stück so vertraut und erwärmend macht, ist die Melodie aus Joseph Haydns (1732-1809) „Kaiserlied“ („Gott erhalte Franz den Kaiser“) von 1797, das die Habsburger Monarchie bis 1918 als Hymne verwendete. Dass sich der Komponist vom kroatischen Volkslied „Stal se jesem“ (Ich bin aufgestanden) inspirieren ließ, gibt der Melodie europäischen Charme.  Haydn schrieb es für den K.u.k.-Kaiser Franz II.  und er nahm es in den zweiten Satz des Streichquartetts op. 76 Nr. 3 auf. Seit 1922 singen die Staatsbürger von Deutschland das Lied, das uns als „Lied der Deutschen“ 1841 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) aus dem Insel-Exil Helgoland auf die Stimmbänder geschickt hat, seit 1990 mit der einheitsdeutschen dritten Strophe. Die Verlegenheit bleibt, nicht wenigen ist es peinlich, zu singen und dann auch noch „für das deutsche Vaterland“. Was heißt das eigentlich? Wer von den Ampelisten aus Berlin spricht davon? Und „im Glanze dieses Glückes“ – ja, von Glück ist die Rede – soll dieses Land, das deutsche Vaterland, „blühen“.  Die Blumen heißen „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Nicht alle Bundesminister vermochten am 3. Oktober 2022 in Erfurt beim „Nationalfeiertag“ (schon diese Bezeichnung irritiert viele) mitzusingen, so Steffi Lemke. Sie schwieg.

Da ist es eine Wohltat, sich der Musik anzuvertrauen, dem Kaiser-Quartett von Joseph Haydn zu lauschen, denn es hat sog. Alleinstellungsmerkmal: nur die deutsche Nation-Hymne ist für Streichquartett komponiert und in den Saiten der vier Spieler liegt alles, was an Zärtlichkeit, Wohlklang und Empfindung für ein Volk zum Ausdruck gebracht werden kann.

Oder: man hört Clara Schumanns Opus 9, das temperamentvolle Impromptu, das sie „Souvenir de Vienne“ nannte und uns klar machen kann, dass Österreich kein fernes Land ist, sondern - gewollt oder ungewollt – an unserer Verständigung als Kulturnation mitwirkt. Bonn und Wien sind musikalisch Nachbarstädte. Aber welche Städte wollen sich ausnehmen? Der Hamburger Johannes Brahms liegt auch in Wien begraben und ist in die schumannsche Welt verwoben wie kein Zweiter. Und Robert Schumann hat Franz Schuberts große C-Dur-Symphonien nach dessen Tod entdeckt, aufgeführt und so sich und die Welt beschenkt. Dass Schubert Fackelträger am Sarg von Beethoven war, weiß jeder. In der Musik  gibt es keine Grenzen, nur Liebende, Könner und einige Genies.

So brauchen wir keine Worte, denn der „Schimmer ferner lächelnder Gestade“ liegt in allen Klängen. Sie vergehen nicht und befeuern die Erinnerungen.