„Viel lieber tot, als leben und nicht leben!“

„Salome“, „Elektra“ und „Die ägyptische Helena“ bei den Strauss-Wochen an der Deutschen Oper Berlin

„Salome“ in der Regie von Claus Guth und in der Titelrolle mit Catherine Naglestad (im Bild) feierte am 24. Januar 2016 Premiere.
Foto: Deutsche Oper Berlin/Monika Rittershaus

Übermorgen gehen an der Deutschen Oper Berlin die Strauss-Wochen zu Ende, die dem Opernpublikum der deutschen Hauptstadt seit dem 12. März fünf für das musikdramatische Schaffen von Richard Strauss zentrale Werke präsentierten, von der frühen Oper „Salome“ (Uraufführung 1905) nach dem gleichnamigen Schauspiel von Oscar Wilde über die in gemeinsamer Arbeit mit dem Librettisten Hugo von Hofmannsthal entstandenen Opern „Elektra“ (UA 1909), „Der Rosenkavalier“ (UA 1911) und „Die ägyptische Helena“ (UA 1928) bis hin zur 1940 vollendeten, aber erst posthum 1952 uraufgeführten Oper „Die Liebe der Danae“.
Wer sich am ersten Aprilwochenende in Berlin aufhielt, konnte an drei aufeinander folgenden Tagen gleich drei der fünf genannten Strauss-Opern an der Deutschen Oper Berlin erleben und genießen. Wie in der Mehrzahl der Opern von Richard Strauss überhaupt Frauenfiguren die titelgebenden Protagonistinnen sind, so waren am 1., 2. und 3. April in Berlin ausschließlich Opern mit biblischen und antiken Heroinen als Titelgestalten zu hören und zu sehen: mit der entrückt tanzenden Salome, die von wilder Lust ergriffen die Tötung Johannes des Täufers erzwingt; mit der ekstatisch entfesselten Elektra, die ihren Bruder Orest zur Ermordung der Mutter Klytämnestra und ihres Geliebten Ägisth anstiftet; und schließlich mit der schönen Helena, die, sei es leibhaftig wie bei Homer, sei es als Trugbild wie bei Euripides, im Trojanischen Krieg den Tod Unzähliger mitverschuldete.

Was die drei genannten Opern außerdem vereint, ist, dass ihre drei Protagonistinnen jeweils intensiv in die Dynamik eines Familiengeschehens eingebunden sind, das sie zu Grenzgängerinnen zwischen Leben und Tod macht. Sie existieren alle gleichsam am Abgrund, in den sie jeden Moment hinabzustürzen drohen. Am deutlichsten ist dies vielleicht in „Elektra“, diesem genialen Einakter Hugo von Hofmannsthals, in dem die Titelfigur sich beim Totendienst an ihrem ermordeten Vater Agamemnon gänzlich in Rachegedanken verzehrt. Der Librettist Hofmannsthal hatte in seinen Anweisungen zur Inszenierung dieser Strauss-Oper eine Bühne gefordert, die den Charakter der „Enge, Unentfliehbarkeit, Abgeschlossenheit“ vermittle. Die Regisseurin der Berliner Inszenierung aus dem Jahre 2007, Kirsten Harms, hat die gesamte Opernhandlung deshalb in das Innere eines Schachts versetzt, der wie ein Zwinger wirkt, in dem man wilde Tiere hält. Dort rast Elektra, wirft sich zu Boden, wühlt in der Erde, als grübe sie nach den Gebeinen ihres toten Vaters, dort erhebt sie vergeblich die Axt gegen ihre Mutter Klytämnestra, dort versucht sie vergeblich ihre Schwester Chrysothemis für eine Mittäterschaft bei den Rachemorden an Klytämnestra und Ägisth zu gewinnen.
Richard Strauss hat die Intensität dieses Familiengeschehens durch die musikalische Umsetzung des Hofmannsthalschen Dramentextes noch um ein Vielfaches gesteigert.

Jede der drei von Richard Strauss komponierten Frauenstimmen charakterisiert ihre Trägerin auf besondere Weise: die im Tonalen schwelgende Chrysothemis (Manuela Uhl), die im Labyrinth des Atonalen dahinirrende Klytämnestra (Doris Soffel) und die in allen Registern taumelnd tanzende Elektra (Evelyn Herlitzius). Letztgenannte Sopranistin, die beim Enescu-Festival 2015 in Bukarest in Alban Bergs „Wozzeck“ in der Rolle der Marie zu hören gewesen war, machte den Opernabend am 3. April zu einem besonderen Erlebnis, das durch die kongenialen Interpretationen der Sopranistin Manuela Uhl und der Mezzosopranistin Doris Soffel noch gesteigert wurde. Nicht von ungefähr hat Evelyn Herlitzius im Jahre 2014 den deutschen Theaterpreis DER FAUST just für die Rolle der Elektra erhalten. Abgerundet wurde dieser besondere Opernabend noch durch die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Oper Berlin an Kirsten Harms, die Regisseurin dieser „Elektra“-Inszenierung und langjährige Intendantin des weltberühmten Opernhauses an der Berliner Bismarckstraße.

Auch „Die ägyptische Helena“ präsentiert ihre Titelfigur als eine Grenzgängerin zwischen Leben und Tod. Gerade dem Untergang Trojas entronnen, droht Helena bereits zu Beginn der Oper von ihrem Ehemann Menelaos (bei Hofmannsthal/Strauss heißt er Menelas) auf offener See erdolcht zu werden. Allein das Eingreifen der Zauberin Aithra, die einen Sturm entfacht und das sich und einander entfremdete Ehepaar per Schiffbruch zu sich holt, verhindert fürs erste den Gattenmord. Doch Menelas, der nicht nur an einem Ehe-, sondern zudem an einem Kriegstrauma leidet, schwelgt weiter in seinen Tötungsfantasien. Wieder ist es Aithra, die Menelas Einhalt gebietet, indem sie ihm Trugbilder des längst toten Paris und der noch lebenden Helena vorspiegelt, welche dieser dann stellvertretend umbringt. Die recht verwickelte Handlung, die zwischen Vergessen(wollen) und Erinnern(müssen), versinnbildlicht durch zwei verschiedene Tränke wie in Wagners „Tristan und Isolde“, hin und her wogt, kulminiert in einem finalen Showdown, wo sich Menelas durch den Opferwillen Helenas und durch das Erscheinen der gemeinsamen Tochter Hermione erweichen lässt und seinen Mordgelüsten ein für allemal abschwört. Der Stoßseufzer der Chrysothemis „Viel lieber tot, als leben und nicht leben!“ kehrt also auch in der Helena-Gestalt wieder, die sich paradoxerweise, gerade indem sie sich ihrem mordlustigen Gatten preisgibt, vor dem eigenen Untergang rettet.

Auch in dieser Aufführung am 1. April (der erst siebten Aufführung von „Die ägyptische Helena“ seit ihrer Premiere im Jahre 2009) konnte man wieder herrliche Stimmen genießen: den wunderbaren Tenor Stefan Vinkes als Menelas, der als Wagnerscher Siegfried dem Bukarester Publikum vom Enescu-Festival 2013 her noch in lebendiger Erinnerung ist, sowie die beiden grandiosen Soprane Ricarda Merbeths (Helena) und Laura Aikins (Aithra). Besonders in den beiden Aktfinalen, die höchste Anforderungen an die Stimmen aller Protagonisten stellen, glänzten die genannten Sänger in Duetten und Terzetten und schufen, unterstützt durch die Regie Marco Arturo Marellis, Klangerlebnisse, die weithin ihresgleichen suchen.

Auch in der Strauss’schen Oper „Salome“ entfaltet sich, und zwar zwischen der blutjungen Salome, ihrer Mutter Herodias und ihrem Stiefvater Herodes, ein höchst intensives Familiengeschehen. Der Regisseur dieser Inszenierung, die am 24. Januar dieses Jahres Premiere hatte und am 2. April ihre fünfte Vorstellung erlebte, ist der 1964 in Frankfurt am Main geborene Claus Guth. Ihm gelang mit seiner Lesart dieses Operneinakters ein Geniestreich, der das Operngeschehen konsequent als Missbrauchsgeschichte deutet. Der berühmte Schleiertanz in der letzten Szene der Oper, der oftmals rein äußerlich als Striptease auf die Bühne kommt, wird von Claus Guth als nach innen gerichtetes biografisch-psychologisches Stationendrama inszeniert. Die sieben Schleier, verkörpert durch die Titelfigur und sechs identisch gekleidete und orgelpfeifenartig aufgereihte Statistinnen, repräsentieren sieben verschiedene Altersstufen Salomes und die in ihnen sich manifestierenden Missbrauchssituationen. Der Schleiertanz wird so zum Reenactment einer sexuellen Missbrauchsgeschichte, bei dem die Mutter von der Tochter gezwungen wird, endlich hinzuschauen und nicht, wie früher sonst, einfach wegzuschauen. Der siebte Schleier ist die gegenwärtige Salome selbst, das nackte Resultat des sexuellen Missbrauchs in der Familie.

In dieser „Salome“-Inszenierung Claus Guths stimmt einfach alles. Die stiefväterliche Missbrauchsfigur wird multipel sichtbar gemacht in den mechanischen Bewegungen sämtlicher Männergestalten, deren Bewegungen zwischen Marionettenhaftigkeit und Zombiedasein changieren und damit Salomes entfremdeten Blick auf das sie zum Opfer machende Geschlecht versinnbildlichen und sichtbar auf die Bühne bringen. Die ubiquitären Bekleidungen und Entkleidungen wie auch die fragmentarischen Teile von männlichen Schaufensterpuppen weisen auf die diversen Missbrauchssituationen hin, die durch den Wilde’schen Dramentext, wenn man ihn auf diese Weise liest, überzeugend untermauert werden.
Doch welche Rolle kommt dabei dem Propheten Joachanaan zu? In der Inszenierung Claus Guths wird er zum Alter Ego Salomes, an dem sie ihren eigenen Missbrauch abarbeitet und auf den sie sowohl sich als Opfer wie auch ihren Stiefvater Herodes als Täter projiziert. So wie Herodes seine Stieftochter nötigte, in eine Frucht zu beißen, damit er dann von ihr koste, so möchte Salome in die Lippen Joachanaans beißen. So wenig Salome einst dem Missbrauch Widerstand entgegensetzen konnte, so sehr hofft sie, dass dies jetzt wenigstens Joachanaan gelingen möge, indem er sich gegen seine Hinrichtung zur Wehr setzt. Am Ende hält sie aber nur dessen abgeschlagenes Haupt als Zeichen ihrer eigenen schmerzlich erlittenen Niederlage in Händen.

Der „Salome“-Abend am 2. April lebte nicht nur von den herrlichen Stimmen Michael Volles (Joachanaan), Herodes’ (Thomas Blondelle) und Herodias’ (Jeanne-Michèle Charbonnet), sondern vor allem von dem grandiosen Auftritt der Sopranistin Allison Oakes, die für die erkrankte Catherine Naglestad eingesprungen war, in der Titelrolle. Mit der Aufführung der Oper „Der Rosenkavalier“ am 17. April gehen die Strauss-Wochen an der Deutschen Oper Berlin zu Ende, bei denen an insgesamt dreizehn Vorstellungstagen fünf markante Strauss-Opern dargeboten wurden, die lebendig sichtbar machten, was große Oper heute bedeuten kann.