Vom Charme der Wiener Hinterhöfe

Das Buch „Geheime Pfade“ präsentiert zauberhafte Plätze, versteckte Winkel und heimelige Gassen der Donaumetropole

Schanigarten des nahegelegenen Restaurants am Schulhof | Fotos: Charlotte Schwarz

Schmeckender-Wurm-Hof mit Blick in Richtung Wollzeile

Die Kurrentgasse in Richtung Steindlgasse/Seitzergasse

Der Sünnhof mit Blick Richtung Landstraße

Gabriele Hasmann (Text)/Charlotte Schwarz (Foto): Geheime Pfade. Durchhäuser, Hinterhöfe und versteckte Gassln in Wien; Wien: Falter Verlag 2019, 248 Seiten, geb., ISBN 978-3-85439-639-0, 29,90 EUR

Wer an Wien und seine Sehenswürdigkeiten denkt, dem kommen wohl zuerst der Stephansdom, das Riesenrad, der Prater und Schloss Schönbrunn in den Sinn. Doch es gibt in Wien noch ganz andere bezaubernde Flecken und verträumte Ecken: verborgene „Durchhäuser“, romantische Innenhöfe und stille „Gassln“, durch die der Besucher abseits der sonstigen Tourismusströme schlendern kann. In ihrem Buch „Geheime Pfade. Durchhäuser, Hinterhöfe und versteckte Gassln in Wien“ zeigen die Autorin Gabriele Hasmann und die Fotografin Charlotte Schwarz auf, wie viele dieser einzigartigen Winkel es bis heute in der Donaumetropole Wien zu bewundern und zu genießen gibt. 

Die atmosphärischen wie stimmungsvollen Fotografien und die griffigen Begleittexte dieses wunderschön gestalteten Bandes sind eine Einladung, jene zauberhaften städtebaulichen Schätze der Vergangenheit, die bis heute das historische Stadtbild schmücken und wahre Oasen im Trubel bieten, neu zu entdecken – und das fernab touristischer Trampelpfade. Hier präsentieren sich das Flair und die natürliche wie kunstvolle Ästhetik früherer Architektur und der daraus gewonnenen Winkel glei-chermaßen als erlebbare wie begehbare Räume, Plätze, Treppen und Kunstwerke. Das Buch bietet eine Zeitreise in Wort und Bild und lädt zugleich zu einer solchen ein, will es doch dazu animieren, den Charme der Wiener Hinterhöfe und versteckten Gassen – jener „geheimen Pfade“ – neu zu entdecken.

Stadt-, Bau- und Kulturgeschichte, Architektur wie Stadtentwicklung Wiens kommen hier gleichermaßen in einer ansprechenden Symbiose aus Bild und Text zur Sprache, illustriert an den alten Vierteln des historischen Zentrums, das zugleich legenden- und anekdotenreich in seinen Bauwerken und Anlagen zur Sprache gebracht wird. Hier beginnen Steine, Häuserfassaden, Torbögen, Treppen und Vitrinen, ja selbst Innenhöfe und ihre Begrünungen, zu sprechen. Die präzisen Beschreibungen der dargestellten „Durchhäuser“, der kleinen Gassen, Hinterhöfe und Plätze in den konzentrierten wie gehaltvollen Begleittexten von Gabriele Hasmann sind dabei genauso elegant wie die Fotos von Charlotte Schwarz.

Die Kombination all dieser historischen städtebaulichen Elemente macht einen Teil des Zaubers der österreichischen Metropole bis heute aus. Dazu zählen besonders jene „Durchhäuser“. Diese zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Bauwerke befinden sich zwischen zwei parallel verlaufenden Straßen und können von beiden Seiten her betreten werden. Sie stellen sowohl eine historische wie auch architektonische Besonderheit dar, sind vielfach mit romantischen Innenhöfen versehen und werden von den Bewohnern gerne als Schleichwege und Abkürzungen genutzt. In einigen davon ist mit Geschäften, Ateliers, Cafés und Restaurants neues Leben eingezogen. Andere sind nach wie vor Geheimtipps. Manche sind echte Grünoasen inmitten der Millionenstadt. 

Die meist ganzseitigen, gelegentlich auch doppelseitigen Bilder zeigen Detail- wie Totalansichten. Sie stellen den Betrachter stets mitten hinein in die Szenerie. Die Fotos sind erkennbar zu Zeiten aufgenommen, wenn wenige Menschen unterwegs sind, sie zeigen ihre Motive meist menschenleer. Doch das stört nicht: die „geheimen Pfade“ selbst stehen so explizit im Mittelpunkt. Und die Fotos – manchmal in der Dämmerung aufgenommen – sind auch dadurch künstlerisch besonders ausdrucksstark. Sie vermitteln eine ganz eigene unverkennbare Bildsprache, Stimmung und Ästhetik und vermeiden kitschige Postkartenoptik, die manche Bildbände kennzeichnet. Doch das Buch ist eben auch kein klassischer bunter Bildband, sondern eine fotografische wie ästhetische Kostbarkeit, die ausdrücklich nicht den Anspruch erhebt, Fachliteratur zur Architekturgeschichte zu bieten. 

Die Leserinnen und Leser sehen und erfahren viel in diesem Buch, nicht nur die Geschichte der visualisierten Häuser, Gassen und Plätze. Wenn etwa sprachgeschichtlich Ausdrücke wie „das kommt mir spanisch vor“ und „die Kurve gekratzt“ (S. 48) oder Begriffe wie „Schottenhof“ oder „Puff“ erklärt werden, wenn dargelegt wird, mit welchen Kritzeleien sich Prominente an Wirtshauswänden verewigt haben, in welchen Gassen Freudenmädchen anzutreffen waren oder wann in Wien Kaffeehäuser etabliert wurden, dann bildet der Band auch ein Stück Kultur- und Alltagsgeschichte ab. Deutlich wird auch immer wieder, welche Rolle die Kirche und die Orden für die Stadt bis hin zur städtebaulichen Entwicklung gespielt haben. Auch die zwischen 791 und 803 erbaute Ru-prechtskirche als in der Grundsubstanz ältestes noch bestehendes Gotteshaus wird porträtiert (S. 111-113).  

Man erfährt, in welchen Vierteln und Gebäuden Komponisten wie Mozart, Beethoven, Brahms und Johann Strauß, Dichter wie Grillparzer und Lenau, aber auch Schauspieler wie Helmut Qualtinger wohnten. Dazu gibt es Sagen, Legenden und Anekdoten wie etwa jene unglaubliche Geschichte vom Bänkelsänger und Sackpfeifer Augustin aus dem 17. Jahrhundert, der nach einer wilden Zecherei so hinüber war, dass man ihn für tot hielt und in eine Pestgrube warf. Nach einem Lebenszeichen wurde er jedoch gerettet (S. 88). Selbstverständlich ist das Haus in der Griechengasse zu sehen, an dem bis heute ein Hauszeichen an den geretteten Dudelsackpfeifer erinnert. Das Buch hält manche köstlichen Geschichten dieser Art bereit. Und gleichzeitig wird auch die Verbindung zur Moderne geschlagen, wenn etwa ein Bild aus der Toreinfahrt des Hauses in der Praterstraße 22 zwischen begrünten heimeligen Hausfassaden auch den Blick auf den Uniqa-Tower freigibt (S. 152 f.).

Das Judenviertel und das Griechenviertel kommen genauso in den Blick wie etliche Sakralbauten oder auch der „Narrenturm“, im Volksmund „Kaiser Josephs Gugelhupf“ (S. 234), in dem heute das Pathologisch-Anatomische Bundesmuseum untergebracht ist. Die Bilder zeigen prunkvoll verzierte Portale, Brunnen, Palais und Passagen, gastronomische Außenterrassen oder auch eine Tafel, die ganz unbescheiden für einen Laden im Hinterhof mit den Worten wirbt: „Fachgeschäft für alles Schöne“ (S. 52 f.). Ganze Plätze sind genauso zu sehen wie liebevoller Blumenschmuck in einem Hof. Natürlich darf auch das berühmte Fresko „Wo die Kuh am Brett spielt“ (Bäckerstraße 12) nicht fehlen.

Es entsteht ein rundum erfreuliches Buch, das Einheimischen wie Reisenden und auch Fans und Freunden Wiens nur zu empfehlen ist. Wer Wien besucht, sollte diesen Band im Gepäck haben.