Vom „Kaff“ und der Welt

Jan Böttcher liest und singt im Goethe-Institut

Jan Böttcher liest aus dem preisgekrönten Buch „Nachglühen“.

Jan Böttcher singt jetzt auch solo, hier das Lied „Der Gast“.
Fotos: Michael Marks

Die Stimme hält – an diesem schwer verregneten Abend im Goethe-Institut, Bukarest. Erstaunlich gut sogar, trotz der Tatsache, dass Jan Böttcher einige Schrecksekunden lang, von Halsschmerzen und einer sich anbahnenden Erkältung bedroht, nur mit Hilfe des eilig gereichten Tees seinen Vortrag fortsetzen kann. Und dann soll er noch singen!

 

Am Ende wird sich der routinierte Moderator und Übersetzer Gabriel H. Decuble ganz begeistert zeigen, gerade wegen des gekonnten Vortragsstils. Nicht selbstverständlich, wie er betont, denn gerade für junge Autoren stellt oft genug das Lesen des eigenen Textes die größte Herausforderung dar. Jan Böttcher besitzt zweifelsohne Bühnenpräsenz, wobei ihm sicher seine Erfahrung als Sänger und Gitarrist der ehemaligen Berliner Band „Herr Nilsson“ von Nutzen ist.

Eingeladen wurde er im Namen des Goethe-Instituts Bukarest von Evelin Hust zu einer literarischen Rundreise, um Kontakte zwischen deutschen und rumänischen Autoren aufzubauen. Aktivitäten, die im Vorfeld und in Vorbereitung der Leipziger Buchmesse 2018 stattfinden, auf der Rumänien Gastland sein wird.

Aufgewachsen ist Jan Böttcher in der pittoresken Kleinstadt Lüneburg, der „guten Seite“ Deutschlands, wie Decuble bemerkt. Was aber Böttcher im Laufe des Gespräches dahingehend zu relativieren sucht, dass er seine Jugend im Hochhausviertel (analog zur ostdeutschen „Platte“) zu Zeiten der bleiernen Kohl-Ära, abgeschottet von inspirierenden „fremden“ Einflüssen, als Stagnation empfunden habe. Später wird er in Bezug auf die eigene Biografie hinzufügen, dass ihm gerade auch die Konfrontation mit der Fremde gefehlt habe, fast „wie in der DDR“. Sein Aufbruch nach Berlin zum Studium der Germanistik und Skandinavistik ereignete sich beinahe parallel zu den politischen Umbrüchen in Deutschland. Die Sympathie für die Ostdeutschen und später für die Länder des Ostens, den Kosovo und jetzt eben Rumänien, wo er von der Freundlichkeit und vor allem der Bescheidenheit der Leute sich beeindruckt zeigt, entwickelt sich so allmählich.

Aus dem 2008 erschienenen Roman „Nachglühen“, für den er 2007 den Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt erhielt, liest Böttcher den Prolog. Der setzt ein, wenn die Dorfbewohner den Zaun zur Elbe einreißen, zum Niemandsland, das die Grenze zum Westen markierte. Eine etwas surreale Szene, in der einer der Protagonisten, Jo Brüggemann, sich in die nun zugängliche Elbe stürzt, als Ausdruck seiner neu gewonnenen Freiheit. In szenisch präzisen Bildern und Dialogen schildert Böttcher die ersten bisweilen skurril anmutenden Aktionen der Dorfjugend. Die berühmte Revolutionsfahne mit dem Loch, mit dem herausgeschnittenen Emblem der Staatsmacht, scheint eine parallele Reaktion sowohl in Rumänien wie auch in Ostdeutschland gewesen zu sein, wie Decuble erstaunt vermerkt.

In „Nachglühen“ geht es um eine persönliche, widersprüchliche Beziehung zwischen zwei ehemaligen Freunden, ihre nicht bewältigten Geheimnisse, erläutert Böttcher den Inhalt des Buches. Gleichzeitig ist dies auch als Spiegel der zerrissenen Lebensläufe zwischen Anpassung und Verrat, Ost  und West zu lesen, die bis weit in die Nachwendezeit hineinwirken, eben nachglühen.

Vermerkt wird in Kritiken zu seinem Buch regelmäßig anerkennend, wie sehr sich Böttcher als Westdeutscher doch einem so fremden Sujet wie der ostdeutschen Provinz annähern konnte.

Aus „Das Kaff“, dem im nächsten Jahr im Aufbau Verlag erscheinenden Roman mit durchaus autobiografischen Zügen, liest Böttcher das dritte Kapitel „Das Derby“. „Kaff“ sei ja eigentlich ein Schimpfwort für ein ganz kleines Dorf, hier aber abwertend auf eine Kleinstadt der norddeutschen Tiefebene gemünzt, erklärt Böttcher nicht nur den Titel, sondern auch gleich das Kernstück des Buches. Es geht um den Gegensatz zwischen Stadt und Land, Selbstverleumdung, Rückkehr zu den Wurzeln, sicher auch um das Überdenken der eigenen Lebensziele. Mehr als Elternhaus und Schule steht das Vereinsleben im Fußballklub für Heimatgefühle. Das Lokalderby zu sehen– zudem, seine Mannschaft verliert kläglich –, weckt mehr Emotionen, als er zugeben möchte. Nicht nur dass es hier einen Ich-Erzähler gibt – das Lokalkolorit der Figuren, ihr lakonischer Witz, auch hier wieder lebendige Dialoge, wie Decuble feststellt – reißen das Publikum ganz offensichtlich mit.

Parallelen von Literatur zum Fußball, wie das dramatische Element, das in jedem Spiel steckt, werden herangezogen. Tatsächlich ist Jan Böttcher ganz praktisch fußballbegeistert, ja sogar Mitglied der Autorennationalmannschaft. Die internationalen Begegnungen auf dieser Ebene seien auch literarisch immer wieder fruchtbar. Sicher auch eine Anregung für die rumänischen Autoren, hier aktiv zu werden. Mehr noch manifestiert sich jedoch im Roman „Das Kaff“ der Bezug zur eigenen Biografie, dem kleinstädtischen Milieu, dem er sich in diesem Roman nun auch stellt. Sich „zu weit zu entfernen von den eigenen Wurzeln“ oder „an seinem Elternhaus vorbei zu schreiben“, hätte seiner Prosa eher geschadet, merkt Böttcher an, dadurch würde „die eigene Sprache nur ungenauer“. Auch in dem Roman „Y“, der im Kosovo spielt, gäbe es autobiografische Passagen, die eben die Enge des kleinstädtischen Lebens thematisieren, „die mangelnde Konfrontation mit der Fremde“. Das „Y“ des Romantitels, steht programmatisch für einen umgekehrten Stammbaum, da hier der Junge Leka keine Unterstützung von seiner albanischen Mutter und dem deutschen Vater erhält, er sozusagen die Last der Verantwortung für die Familie selber tragen muss.

In den Kosovo geriet Böttcher erstmals anlässlich einer Einladung zu einem Musikfestival, weil in einem seiner Lieder der Kosovo und Pristina vorkamen. Das besagte Lied „Der Gast“ wird er später vortragen. Die ungewohnt chaotischen postkommunistischen Verhältnisse in Pristina scheinen ihn tief beeindruckt zu haben. So, dass nach einem Regenguss alle Straßen unter Wasser standen, weil die Kanalisation überlastet war, aber auch die anarchische Bauweise, die er egoistisch nennt, weil jeder dem anderen rücksichtslos etwas vor die Nase stellt. Ergebnis postkommunistischer korrupter Interessen, die auch vor Mord nicht zurückschrecken. Auf seine bisherigen Erfahrungen während seiner siebentägigen Reise durch Rumänien angesprochen, setzt er später hinzu, dass einige Unterschiede doch auffielen. So sei Bukarest überraschend attraktiv, da zumindest ein Teil des architektonischen Erbes sich erhalten habe. In Pristina hingegen seien alle Zeugnisse z. B. osmanischer Architektur vernichtet worden, ja selbst die Flussbetten habe man zubetoniert. Allerdings zu weit will auch Decuble die Parallelen zwischen dem Kosovo und Rumänien nicht ziehen, eher möchte er nun den Einfluss der Musik auf die Lyrik von Jan Böttcher untersuchen.

Im Dialog ergründen beide das Verhältnis von Musik zur Textgestaltung, dem Rhythmus, der den Sätzen in den beiden Romanen jeweils eine eigene Note verleiht. Die Verbindung der Stimme des Erzählers mit seiner besonderen Sprache, auch Sprachmelodie, sowie der Aufbau der Komposition, das alles ist schon musikalisch gedacht, räumt Böttcher ein. Text und Musik müssten allerdings auch reifen dürfen, von allzu großer Anbiederung an Jugendwahn möchte er sich distanzieren. Die Relevanz der Texte steht für ihn da im Vordergrund. Erfahrungen und Inspiration habe er gerade auch auf seiner Reise durch Rumänien erfahren.

Sogar Tanz und Literatur könne man sinnvoll verbinden. Auf seiner Reise habe er insbesondere Autoren der Altersgruppe zwischen 30 und 40 Jahren getroffen, darunter manches insbesondere an lyrischen Texten gefunden, die neu und beachtenswert seien. In dieser Hinsicht wird er in einer literarischen Nachlese die Ergebnisse seiner Reise in einigen Artikeln auch mit Blick auf die Leipziger Buchmesse veröffentlichen. Die Aufmerksamkeit, die rumänische Schriftsteller durch die Messe erfahren könnten, sei sicher erst ein Anfang. Leider herrsche in Deutschland viel Ignoranz gegenüber der Literatur aus dem Osten, während die angloamerikanische Literatur überpräsent sei. Da wäre es an der Zeit, die oft schüchternen jungen rumänischen Autoren zu ermutigen, um das Interesse auch der großen Verlage zu gewinnen.

Der Tee scheint gewirkt zu haben, denn Jan Böttcher fühlt sich nun stark genug, auch den musikalischen Teil in Angriff zu nehmen. Zunächst eröffnet er mit „Bed & Breakfast“, einem Song aus seinem ersten Soloalbum „Vom  anderen Ende des Flurs“ aus dem Jahr 2008. Ermutigt folgt ein neuer Song über seine Familie, seine beiden Söhne und die Plagen des Alltags. Das oben erwähnte Lied „Der Gast“ wird nun vorgetragen und man merkt ihm keine Schwäche an, im Gegenteil auch hohe Noten werden spielend getroffen. So folgt zum Abschluss der älteste Song der Band „Herr Nilsson“, das Lied vom „Badewasser-Einlasser“, das Böttcher – früher hätte man wohl lausbübisch verschmitzt gesagt – dem amüsierten Publikum vorträgt. „Kommen Sie wieder“, mit dieser Aufforderung schließt Decuble den gelungenen Abend.