Vom wilden Osten und anderen virtuellen Welten

Rückblick auf das Internationale Filmfestival Braunschweig

Radu Iacoban (links) und Şerban Pavlu in „Charleston“
Foto: Versatile Films

Was Ende der achtziger Jahre von rund zwanzig filmbegeisterten Studierenden ausgegangen war, ist heute mit seinen 25.000 Besuchern das größte Filmfest in Niedersachsen. Das Internationale Filmfestival Braunschweig zeigte in diesem Jahr im Rahmen seiner 31. Auflage rund 100 Langfilme und 160 Kurzfilme aus insgesamt 42 Ländern; auch rumänische Filme waren dabei.

Insbesondere im Bereich des jungen europäischen Kinos hat sich das Braunschweiger Filmfestival einen Namen gemacht. Neben dem europäischen Schauspielpreis „Die Europa“, der in diesem Jahr an Nina Hoss ging, wird „Der Heinrich“ verliehen, ein Publikumspreis für europäische Debüt- und Zweitfilme. Die zehn Wettbewerbsfilme – die man im regulären Kinoprogramm kaum jemals zu sehen bekommt – rangieren von Roadmovies und Comedys bis Thriller und Dramen und sind stets sehenswert dank ihrer kreativen Herangehensweise an bewegende, aktuelle Themen. Neben dem Gewinner, der in diesem Jahr aus Irland kam („A date for mad Mary“ von Darren Thornton), waren in diesem Jahr Filme aus Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Schweden, Dänemark und Deutschland zu sehen.

Das östliche Europa war von dem bildgewaltigen „Dede“ von Mariam Khatchvani (Georgien / Katar 2016) vertreten, in dem es um strenge ländliche Traditionen und die mühsame Befreiung davon in einem entlegenen georgischen Bergdorf geht. Zudem verarbeitete das kroatische Coming-of-Age-Drama „The Trampoline“ (2016) von Katarina Zrinka Matijevi eindrücklich die dunklen Seiten von Mutter-Tochter-Beziehungen. Im Rennen war schließlich eine weitere deutsche Premiere mit Südosteuropa-Bezug, die rumänisch-französische Produktion „Charleston“ (2017) von Andrei Creţulescu. Der Film handelt von der schwierigen Begegnung zwischen dem Ehemann und dem Liebhaber einer verstorbenen Frau. Alexandru (Şerban Pavlu) und Sebastian (Radu Iacoban) könnten nicht unterschiedlicher sein: Der eine ist verbittert und aggressiv und versucht seinen Kummer in beachtlichen Alkoholmengen zu ertränken, der andere ist ein dürrer, schüchterner und verträumter Vegetarier, der über sein Leid minutiös Tagebuch führt. Die beiden quälen sich gegenseitig mit ihrer Liebe zu Ioana, wobei der Zuschauer erst nach und nach die Figuren kennenlernt und der Film vielmehr andeutet als enthüllt. Auch steht diesmal ein stilvolles, in Südlicht getauchtes Bukarest im Mittelpunkt: Man liest Kunst- und Architekturbücher, lebt in einem schicken Altbau und fährt einen knallroten alten Fiat 500. Die vielfach bemühten Balkan-Klischees fehlen, das Bukarester Chaos, die schrägen Gestalten, die Auseinandersetzungen um illegale Abrisse tauchen nur am Rande auf. Grandios ist neben der Musik (u. a. von Konstantin Gropper alias „Get Well Soon“) auch die Tischszene, bei der Alexandru und Sebastian die Eltern der Verstorbenen besuchen. Ana Ciontea und Victor Rebengiuc sind eine traumhafte Besetzung für die überstrenge, gefühllose Mutter und den zwanghaft geschwätzigen Vater – das Ergebnis ist Kammerspiel vom Feinsten.

Ein weiterer rumänischer Film war in der Reihe „Neo-Western“ zu sehen: der vielgelobte Debütfilm „Dogs“ („Câini“) von Bogdan Mirică, der in der ADZ bereits rezensiert worden ist („Im Niemandsland der Rechtlosigkeit“ von Dr. Markus Fischer, 16. Oktober 2016). Um Willkür und Selbstjustiz im wilden Osten ging es zudem im ungarischen Neo-Western „Coyote“ von Márk Kostyál. Wie der junge Bukarester in „Dogs“ erbt auch Misi Bicsérdi (András Mészáros) ein Grundstück auf dem Land und sieht sich mit einer Bande gefährlicher Lokalmafiosi konfrontiert, was in zahlreichen überspitzten Schlägereien in Bud-Spencer-Manier mündet. Schmunzeln muss man über innerungarische Stereotype, zum Beispiel darüber, dass der Szekler Attila dauernd „Zigeuner“ genannt wird – dabei sind tatsächlich mindestens zwei der Schauspieler (László Mátray und Levente Orbán) in Siebenbürgen geboren. Der Film ist dynamisch, unterhaltsam und spannend, dem Regisseur gelingt ein hervorragender Mix von albernen Western-Zitaten und faszinierendem Lokalkolorit.

Ein weiterer Fokus des Internationalen Filmfestivals Braunschweig liegt auf Filmmusik, die in diesem Jahr durch eine Retrospektive mit Werken des Oscar-Preisträgers Jan A. P. Kaczmarek vertreten war. Zudem wurde der Klassiker „Matrix“ als Filmkonzert aufgeführt, wobei das Staatsorchester Braunschweig vom Filmkomponisten Don Davis persönlich dirigiert wurde. Als Beitrag zum Reformationsjubiläum war schließlich der Stummfilm „Luther“ von Hans Kyser aus dem Jahr 1927 zu sehen, musikalisch beeindruckend gestaltet von dem geschätzten Stummfilmmusiker Stephan von Bothmer.

Ansonsten geht es bei einem Filmfestival neben der Kunst der Kinematografie – und in diesem Fall der Filmmusik – auch immer um die Kunst, rechtzeitig im nächsten Kino zu sein. Bei der Vielfalt des Angebots war das nicht immer einfach, aber stets lohnenswert. Workshops, Filmgespräche und Partys, Filme über Familienkonflikte, Frauenfeindlichkeit, Männer in der Krise, politische Auseinandersetzungen und religiöse Übertreibungen, Schauplätze in Indien, Mosambik, Ägypten, Korea, Sizilien oder Israel – langweilig wird es dem Filmfestbesucher eigentlich nie. Hinzu kommt eine einmalige Festivalstimmung. Da kann kein Online-Streaming der Welt mithalten.