Von Träumen, Zwängen und Eskapismus

„Fast Forward“ in Braunschweig – ein inspirierendes Festival für junge Regie

Szene aus „American Dream“ von Leta Popescu
Foto: Nicu Cherciu

Kann Theater mit der Gesellschaft mithalten? Oder wandeln sich die Zeiten schneller als die Bühnenkunst? Mit welchen Themen beschäftigen sich junge Dramatiker, Regisseure und Schauspieler, welche Formen greifen sie auf und welche Anregungen geben sie an ihr Publikum weiter? Einige Antworten gab die fünfte Auflage des europäischen Festivals für junge Regie „Fast Forward“ (Schnell vorwärts) in Braunschweig. Sieben kreative, unkonventionelle Theaterproduktionen aus sieben Ländern waren vom 19. bis 22. November auf den Bühnen des Staatstheaters Braunschweig und des LOT-Theaters zu sehen. Die unterschiedlichen Sprachen, die man sonst eher selten unter einem Dach hört, machten den Charme der vier Abende aus, doch abgesehen davon stand das Verbindende im Fokus. Der Blick auf die Bühne und in den Saal bestätigte: Theater ist „jung“ und hat Zukunft.

Jung ist auch die moldawische Protagonistin des Stücks „American Dream“ in der Regie von Leta Popescu (Klausenburg/Cluj) – doch ob sie eine Zukunft hat?! Die Frage bleibt offen. Die junge Studentin bewirbt sich um einen Sommerjob in den USA, gelangt in eine „Region ungefähr wie Ivancea, bloß in den Staaten“, schafft es mit dem verdienten Geld kaum, sich über Wasser zu halten und entscheidet sich schließlich, stattdessen auf dem Bau in Russland zu arbeiten, um zumindest ihre Schulden bezahlen zu können. Zwischendurch gibt es Videoprojektionen, in denen es u. a. um gentechnisch veränderten Mais oder Trinkwasser geht, das absurderweise teurer als Erdöl ist.

Die überdimensionierten Flaggen Russlands und der Vereinigten Staaten werden in den Saal getragen, füllen den Raum buchstäblich aus und flattern minutenlang über den Köpfen der Zuschauer; Putin und Obama sind auf einer großen Leinwand bei offiziellen und privaten Auftritten von zunehmender Peinlichkeit zu sehen. Der rumänische Text wird ab und zu mit herrlicher moldawischer Einfärbung deklamiert, die Schauspielerinnen Diana Buluga, Alexandra Tarce und Sânziana Tarta wechseln aber auch ins Englische und Russische.

„American Dream“ stammt aus der Feder der Autorin Nicoleta Esinencu aus Chişinău und wurde ursprünglich als Monolog verfasst. Esinencu hatte bereits 2005 mit ihrem Theaterstück „FUCK YOU, Eu.ro.Pa!“, das manchen mit der Europakritik zu weit ging, für Debatten gesorgt. Sie arbeitete in Deutschland und Frankreich, ihre Stücke wurden außerdem in Russland, Japan, Schweden und Österreich aufgeführt. Unabhängiges, alternatives Theater – trotz mangelnder Finanzierung und vor allem trotz politischen Unwillens – steht im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. In einer ähnlichen Theaterszene arbeitet auch Leta Popescu, die sich für interdisziplinäre Projekte zu sozialen Themen und gesellschaftlicher Verantwortung engagiert. „Es ist mir wichtig, Theaterstücke zu inszenieren, die von hier und heute handeln“, so die junge Regisseurin.

„Die Frage, die ich mir hier stelle, ist, warum sich Moldawer für etwas Besseres halten, wenn sie sich mit Usbeken vergleichen, Rumänen wiederum auf Moldawier herunterschauen, Ungarn auf Rumänen und so weiter. Dabei spielen die Großmächte Monopoly mit der Welt. Wir alle sind nur Zuschauer und könnten ruhig solidarischer sein. Die Geschichte eines ‚Niemands‘ aus Moldawien ist stellvertretend für uns alle.“

Die norwegische Inszenierung „Stop being poor“ von Anders Firing Aardal, Matias Askvik, David Jensen, Marthe Sofie Lokeland Eide, Ylva Owren und Heiki Eero Riipinen setzte sich hingegen mit unmenschlichem Karrieremachen auseinander: krankhafter Erfolgsdruck, auf die Spitze getriebener Individualismus, überstrenge Chefs können kaum noch ausgeglichen werden von der verzweifelten Suche nach Entspannung und dem eskapistischen Konsumrausch. Um Ferien ging es in „Société des amis“ von Jan Koslowski (Regie) und Nele Stuhler (Dramaturgie) aus der Schweiz. Die Darsteller zeichneten in Anlehnung an die Kultbuchserie „Fünf Freunde“ ein albernes, äußerst erfrischendes Bild einer jungen Generation, die sich auf die Suche nach Abenteuern und nach sich selbst begibt und schließlich der heutigen Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Lautes Gelächter aus dem Saal und permanentes Reagieren des Publikums begleiteten von Anfang bis Ende die inspirierende Aufführung.

Innigste Wünsche und Träume standen wiederum im Mittelpunkt der ungarischen Produktion „Before you die“ von Martin Boross. Die Tänzer Tamara Vadas und Imre Vass und der Musiker Szabolcs Toth beschäftigten sich dabei mit sogenannten „bucket lists“, Listen von Erlebnissen oder Dingen, nach denen man sich sehnt und die man noch zu Lebzeiten erreichen möchte. Der Wettbewerbsbeitrag aus Spanien in der Regie von Pablo Gisbert erzählte unter dem Titel „Szenen für ein Gespräch nach dem Anschauen eines Films von Mihael Haneke“ in zwölf losen Geschichten über die Widersprüche zwischen Wollen, Sagen und Tun, während „Ibsen: Peer Gynt“ vom Theaterkollektiv Markus & Markus aus Deutschland schließlich die einzige an einen klassischen Theatertext angelehnte Produktion war, wobei die Geschichte des Protagonisten in die Gegenwart versetzt und umgedeutet wurde.

Um „kleine Leute“ im grauen Alltag ging es im Gewinnerstück der diesjährigen „Fast Forward“-Auflage. Die Produktion „Einen schönen Tag noch!“ von Rugile Barzdžiukaite, Vaiva Grainyte und Lina Lapelyte aus Litauen überzeugte die internationale Jury unter anderem mit dem ungewöhnlichen Format einer minimalistischen „Oper für zehn Kassiererinnen, Supermarktgeräusche und Klavier“. Thematisch ging es um die gnadenlose Arbeitswelt, den allmächtigen Konsumzwang und die persönlichen Konflikte, die sich hinter einer glänzenden aber bröckelnden Oberfläche verbergen. „Wenn die Zuschauer diesen Raum verlassen, hat sich ihr Blick auf Kassiererinnen verändert“, so die Festival-Jury in der Begründung ihrer Wahl. „Die Produktion gibt ihnen ihre Würde zurück.“ Und Würde scheint heute eine Mangelware zu sein, die Theater allgemein wiederherstellen kann, sei es nur für einen Abend.