Von ungarischer Freiheitsliebe und deutschem Unverständnis

Ein aktueller Band wagt einen spannenden Blick auf die derzeit schwierigen Beziehungen zwischen Ungarn, Deutschland und Europa. Das Thema berührt auch Rumänien

Zsolt K. Lengyel / Ralf Thomas Göllner / Wolfgang Aschauer (Hg.), Ungarn, Deutschland, Europa. Einblicke in ein schwieriges Verhältnis; Verlag Friedrich Pustet: Regensburg 2017, 256 S., ISBN 978-3-79172861-2 (Studia Hungarica Bd. 53)

Keine Frage: Die politische Zuneigung zwischen Ungarn und Deutschland war schon einmal tiefer, vor allem bei der Grenzöffnung 1989. Die heutige Politik des ungarischen Premiers Viktor Orbán löst aber seit Jahren in linksliberalen und zunehmend auch konservativen Kreisen Ablehnung bis hin zu wüster Kritik aus, wenn er sich als konsequenter Vertreter nationaler Interessen präsentiert und auch eine im Vergleich zu den liberalen Gesellschaften West- und Mitteleuropas deutlich restriktivere Innenpolitik praktiziert. Orbán ist damit zweifellos zu einem Feindbild westlicher Medien, Politiker und auch Wissenschaftler geworden. 

Ein aktueller Band bietet nun unter dem Titel „Ungarn, Deutschland, Europa. Einblicke in ein schwieriges Verhältnis“ hintergründige Beiträge aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Der Band demonstriert ziemlich präzise die derzeitigen Verwerfungen zwischen der politischen Szene Deutschlands und dem Großteil der ungarischen Bevölkerung, der sich kürzlich bei den Europawahlen wieder mit absoluter Mehrheit für den Orbán-Kurs ausgesprochen hat. 
Leider fokussiert der Band in vielerlei Hinsicht vor allem auf die sehr unterschiedliche Sicht und Praxis in der Flüchtlingspolitik, ohne zu berücksichtigen, dass in Europa die deutsche Haltung der letzten Jahre isoliert dasteht, nicht die ungarische und etwa Frankreichs alerter Präsident Macron längst die Zurückweisung über Drittstaaten angereister Flüchtlinge an seinen Grenzen geräuschlos und unkritisiert praktiziert, während Orbán der Buhmann ist. 

Von beispielloser Einseitigkeit ist der erste Beitrag von Wolfgang Aschauer („Der lange Herbst der Zivilgesellschaft. Die Flüchtlingskrise in Deutschland und die Rolle Ungarns“), der „die Dispute um den Umgang mit Flüchtlingen“ und damit eine sehr konkrete politische Frage sogleich zu „Auseinandersetzungen um die Form der Gesellschaft“ und unterschiedliche Herrschaftsmodelle hochstilisiert (S. 16). Während Deutschland von der modernen „good governance“ geprägt sei, zeige sich an der ungarischen Politik die ältere „imperative Steuerung“ („command and control“). 

So kommt Aschauer recht plakativ zu einer Unterscheidung zwischen Bürgergesellschaft und Untertanenstaat, wodurch auch gleich Sympathien und Moral klar verteilt sind. Wenn er die mit dem Flüchtlingsmanagement betrauten staatlichen Verwaltungen pauschal als „natürlichen Feind des Flüchtlings“ bezeichnet (S. 21), zeigt dies einerseits wenig Kenntnis der praktischen Probleme vor Ort und diffamiert an-dererseits auch alle, die mit den damaligen Herausforderungen täglich konfrontiert waren. 
Fast schon idealtypisch werden alle kritischen Stimmen zur Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel als rechtspopulistisch bis rechtsextrem, rassistisch, ausländerfeindlich und islamophob gebrandmarkt. Die zahlreichen seit 2015 von Flüchtlingen begangenen Attentate und die unbestreitbare Problematik als Flüchtlinge eingeschleuster gewaltbereiter Islamisten werden systematisch ausgeblendet. Diese ideologisch einseitige Sicht führt soweit, dass der Autor kriminelle Schlepper sogar als „Transportmanager“ verharmlost (S. 31). Soweit gehen nicht einmal die deutschen Kirchen in ihrer glühenden Affinität zur Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. 
Die heiß diskutierte und selbst von einem anerkannten Verfassungsrichter wie Udo di Fabio juristisch kritisch kommentierte Grenzöffnung vom September 2015, die die AfD in den Bundestag spülte, ließ für ihn „das Heft des Handelns wieder in den Besitz der deutschen Regierung übergehen“ (S. 34) – eine krasse Umdeutung der Wirklichkeit. Jede Kritik daran gilt ihm als fremdenfeindliche Propaganda. 

Auch jede kritische Sicht auf die deutsche Rundumversorgung von Flüchtlingen angesichts anderer sozialer Schieflagen wird von ihm als „Neidkampagne“ diffamiert (S. 35), auffällige Kriminalitätsraten unter Flüchtlingen sind für ihn „in erster Linie ein Produkt der Asylpraxis der deutschen Politik“ (S. 37). Die ungarische Politik zielt in seiner Sicht auf Durchsetzung „ethnischer Homogenität“, auch zu Lasten der eigenen Minderheiten. Dass Juden heute in Ungarn sicherer leben als in Deutschland und dort keine Synagogen und jüdischen Friedhöfe geschändet werden, wie Zsolt K. Lengyel später ausführt, spricht er nicht an. Ein beispiellos einseitiger, moralisierender und ideologischer Beitrag. 

Benedikt Widmaier widmet sich der politischen Bildung und Vergangenheitsbewältigung in Deutschland nach 1945, ohne Ungarn näher zu thematisieren („Lernen aus der Geschichte des Nationalsozialismus“). 
Krisztina Slachta beschäftigt die Zusammenarbeit der ungarischen Geheimdienste mit der Stasi der DDR bis 1990. Sie weist detailliert nach, wie die Stasi in Ungarn urlaubende DDR-Bürger überwachte. Dabei zeigt sie auf, dass sich das Handeln der entsprechenden Stasi-Initiativgruppe auf ungarischem Boden mehr und mehr verselbstständigte. 

Gerald Volkmer skizziert in seinem exzellenten Beitrag „Grundzüge der Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den deutschen Minderheiten im östlichen Europa“ die Geschichte der Deutschen im östlichen Eu-ropa im 20. Jahrhundert und erinnert daran, dass lediglich in Rumänien und in eingeschränktem Maße in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg „ein regimekonformes deutschsprachiges Unterrichtswesen beziehungsweise Kulturleben geduldet“ wurde (S. 82). Die deutsche Politik betrachte die Unterstützung der deutschen Minderheiten im Ausland bis heute als eine „Selbstverpflichtung“, auch als „Solidarität und Ausgleich für erlittenes Unrecht und Unterdrückung“ nach dem „Prinzip des Einvernehmens mit dem jeweiligen Heimatstaat der Minderheit“ (S. 94), wobei die zunächst materiellen Hilfen zur Verbesserung der Lebensumstände heute in Hilfen zur selbstbestimmten Regelung ihrer Angelegenheiten übergegangen sei. Dabei sei es in Deutschland Konsens, keine außenpolitischen Spannungen mit den entsprechenden Ländern in Kauf zu nehmen. 

Die ungarische Praxis der Förderung der eigenen Minderheit im Ausland seit der Zwischenkriegszeit stellt Ferenc Eiler in einem der besten Beiträge dar („Ungarn und seine Politik zum Schutz der ungarischen Minderheiten. Ursprünge und Ausprägungen seit 1920“). Eiler geht aus vom zunehmenden ungarischen Nationalismus nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, der immer weniger zwischen ethnischer und politischer Deutung des Nationenbegriffs unterschied und vor allem nach dem Trianon-Vertrag zu einem „Opfer-Narrativ“ fand, der die politische Elite und große Teile der Gesellschaft nachhaltig geprägt habe. So wurden die Ungarn von der identitätsstiftenden großen Staatsnation zu Minderheiten in einigen Ländern wie Rumänien, wo bis heute über 1,2 Millionen Ungarn leben. Trotzdem hielt sich bis heute ein ethnisch definierter Nationenbegriff, worauf später auch Lengyel noch eingeht. Ungarn ordnet dabei die Förderung der Auslandsungarn explizit den bilateralen Beziehungen zu diesen Ländern unter und führte 2011 die ungarische Staatsbürgerschaft für Auslandsungarn ein. 

Es bleibt dem Mitherausgeber Zsolt K. Lengyel in seinem Beitrag „Das Ungarn-Bild der deutschen Medien“ vorbehalten, eine etwas ausgewogenere Sicht einzuklagen und dabei auch manche Einseitigkeiten zu korrigieren. Die unversöhnlichen Verwerfungen innerhalb der politischen Szene Ungarns liegen nach ihm auch darin begründet, dass die ungarische Linke „einen Alleinvertretungsanspruch auf den Liberalismus anmeldete“ und jedem nationalen Gedanken die Demokratietauglichkeit abspricht (S. 145 f.). 
Mittlerweile habe sich in der deutschen Presse der Vorwurf des Antisemitismus, der behinderten Vergangenheitsbewältigung und der Fremdenfeindlichkeit festgesetzt, spätestens seit Herbst 2015 zudem das Bild vom guten Deutschland und das vom bösen Ungarn. Medien und meist linksliberale Autoren warnen im deutschsprachigen Raum seit Jahren regelmäßig vor einer Diktatur und einer „Renaissance des Nationalismus“. Gesetzesvorlagen Orbáns würden schon heftig kritisiert, noch bevor überhaupt eine Übersetzung in eine Weltsprache vorliegt. 

Lengyel bietet viele Fakten gegen die massiv einseitige Darstellung Ungarns und Orbáns in deutschen Medien. Er beleuchtet die Gründe für die mehrheitlich rigorose Ablehnung des Orbán-Regimes in den deutschen Medien vom Mediengesetz bis zur Verfassung von 2011 und weist auch darauf hin, dass Orbán Entscheidungen vorgeworfen werden, die im Westen selbstverständlich sind wie etwa die Besetzung des Chefpostens der Nationalbank mit einem Vertrauten des Regierungschefs. Lengyel zitiert reihenweise massiv einseitige Beispiele der Berichterstattung bis dahin, dass in der „Berliner Zeitung“ Ende 2015 wörtlich zu lesen war, dass Europa von Polen und Ungarn eine größere Gefahr drohe als von der Mördertruppe des Islamischen Staates. Er spricht von einer „hochgradig ideologisierten – und durch die Orbán-Schelte auch personalisierten Ungarn-Berichterstattung“ (S. 208) aus einer linksliberalen und anationalen Perspektive, die nur die Demokratie linksliberaler Prägung als europatauglich anerkennen wolle.

Der Band lässt den Leser recht ratlos zurück. Die große Diskrepanz zwischen ungarischer Freiheitsliebe und deutschem Unverständnis, veröffentlichter Meinung und vielen Fakten animiert hoffentlich zu kritischem Medienkonsum und mehr Offenheit für Argumente auf allen Seiten.