Welt-Ärzte-Orchester begeistert mit Beethoven und Berlioz

Großes Orchesterkonzert in der Schwarzen Kirche in Kronstadt

Die noble Etikette – es gibt sie noch, wenn Ärzte in aller Herren Ländern auch für die Kunst eine Lanze brechen und sich nicht allein zur medizinischen Dienstleistung berufen fühlen. Es wird diagnostiziert, behandelt, fieberhaft nach Lösungen für komplizierteste Rätsel gesucht. Wer nichts findet, hat vergeblich gesucht, eine Devise, welche den Arzt antreibt. Ihm als Suchendem gibt die Musik einen Ausgleich, in ihr gibt es kein „vergeblich“, und das Finden ist nicht letztes Ziel. In seiner Freizeit zum Musikinstrument zu greifen, ist für den Arzt bestimmt Entspannung pur. Hier darf er auch mal falsch tippen, unvorsichtige Schnitzer bedeuten nicht gleich das Ende. Zeit ist da nicht lebenswichtig, Scheitern nicht todbringend, und es besteht die Chance, ohne Erfolgsdruck das Suchen zu trainieren, Schwächeln ausnahmsweise erlaubt. Die Uhr tickt erst wieder im Beruf.

Einen Halbmarathon hatte sich das World Doctors Orchestra für das Konzert am 27. Mai um 18 Uhr in der Schwarzen Kirche in Kronstadt/Braşov vorgenommen. Auf der letzten Strecke der zwei Stunden dauernden Aufführung mussten Orchestermitglieder und Dirigent Stefan Willich Qualitätsabstriche hinnehmen, doch hätte unter gegebenen Bedingungen auch ein Berufsorchester Federn gelassen. Obwohl bereits Ende Mai, steckte noch immer ein deutlicher Rest vom längst vergangenen siebenbürgischen Winter im übergroßen Innenraum der Schwarzen Kirche. Ihre besonders reiche Klangkrone ist bei Zuhörern sehr beliebt, Aufführende müssen dafür jedoch unglaublich viel investieren. Chorsänger und Orchestermusiker werden es jederzeit gerne bestätigen: Sich in dem akustischen Gewusel zu orientieren, ist an diesem Ort ungemein schwierig.

Die 104 Orchestermusiker des Welt-Ärzte-Orchesters füllten beinahe den ganzen Chorraum der Schwarzen Kirche aus. Ein prominentes Beispiel für extreme Größenordnungen in Sachen Orchesteraufstellung ist Claudio Abbado, der im Herbst seiner Karriere als Chef des Gustav Mahler Jugendorchesters und des Lucerne Festival Orchestra Aufführungen der großen Mahler-Sinfonien dirigierte, mit 12 Kontrabässen u. s. w., und damit natürlich goldrichtig lag, nachzuerleben in der Wahnsinns-Mediathek Youtube. In der Schwarzen Kirche spielte das World Doctors Orchestra auch Beethovens „Pastorale“ in größtmöglicher Besetzung. Zehn Pulte 1. Violine machen Beethoven nicht unbedingt einfacher, und der Pauker musste ganz weit hinten im Orchester seine sechs Sinne zusammennehmen, um ja nicht zu spät auf den Schlag des Dirigenten zu reagieren.

Stefan Willich, selbst Arzt an der Berliner Charité, machte in solider Kapellmeister-Art das Beste aus der Situation und gab von seinem Pult aus alle Einsätze, die ein Dirigent nur geben kann. Leider spielten ihm und seinen Orchestermusikern die bereits fortgeschrittene Konzertdauer, die erwähnte Kälte in der Schwarzen Kirche und die erschwerten akustischen Bedingungen nicht in die Karten, sodass etliche Einsätze von Blech-und Holzbläsern letztendlich viel an Intonation und Rhythmus einbüßten. Es hatte in der „Pastorale“ aber auch begeisternde Szenen, wie beispielsweise die exzellenten Klarinetten-Soli, und sehr saubere Einwürfe der Gruppe der Holzbläser und Hörner, Harmoniemusik in der edelsten Ausführung. Ein Meisterwerk von Beethoven als Schlusspunkt im Konzert.

„Transylvania blue grass“ von Şerban Nichifor, eine Suite für Solo-Violine (Ioan Harea) und Streichorchester, wurde zu Beginn gespielt, und verfehlte völlig ihre Bestimmung als für den Konzertsaal gedachte Komposition. Der rumänischen Volksmusik ist ein pfeffriger Stil nicht abzusprechen, sie aber aus der deftigen Gaststätte herauszuführen und salonfähig zu gestalten, hat Şerban Nichifor nicht fertiggebracht. Unter seinen Landsmännern finden sich genügend Vorgänger, deren Werke vom Schwierigkeitsgrad her ebenso gut auf dem Programm hätten stehen können: Theodor Rogalski, Sabin Drăgoi, und allen voran natürlich George Enescu. Herzstück im Konzert des World Doctors Orchestra war das viersätzige „Harold in Italien“ für Solo-Viola und großes Orchester von Hector Berlioz. Aida-Carmen Soanea, aus Jassy/Iaşi stammend und international tätige Solistin, hatte es nicht nötig, den Bogen zu überspannen, ihre Bratsche war auch im Piano noch sehr präsent. Zu diesem Zeitpunkt hatten auch die Orchestermusiker noch ihre vollen Speicher zur Verfügung, kein Ausrutscher einzelner Musiker in den lauten und schnellen Tutti-Passagen, welche Dank sehr guter Posaunen und Tuba deutlich an die „Symphonie Fantastique“ erinnerten. Eine sehr gute Leistung des Orchesters, doch über allen Instrumenten und der Akustik der Schwarzen Kirche schwebte die Solo-Bratsche, von Aida-Carmen Soanea gespielt.

Was für einen Ausgang ein ungelöstes Rätsel haben kann, wissen Ärzte nur zu genau. In ihrem Beruf müssen sie wohl oder übel den medizinischen Geheimnissen den Kampf ansagen, das Frage-Antwort-Spiel mitmachen, eine Tätigkeit, die bestimmt seelisch stark beansprucht. Musikausübende Ärzte finden wahrscheinlich Entspannung in der Kunstform Musik, die vom ewigen Geheimnis lebt, es niemals preisgibt. Sie stellt Fragen, gibt keine klaren Antworten, möchte aber auf unbestimmte Zeit beschäftigen. In der Musik, ganz anders als in der Medizin, zählt nicht das endgültige Ergebnis, welches es gar nicht geben kann, es zählt die Suche danach, und je länger sie anhält, desto besser. Was suchen wir im täglichen Leben, in der Begegnung miteinander? Suchen wir unsere und anderer Menschen Geheimnisse zu lüften? Oder sind wir auch ein wenig Künstler, die einander Rätsel aufgeben, um die Begegnung lebendig zu erhalten?