Zehn Gebote, zehn Lebensgeschichten

Zur Uraufführung von „10“ am Hermannstädter Radu-Stanca-Theater

Marius Turdeanu, Ciprian Scurtea und Diana Fufezan (v. l.) sind drei der zehn Protagonisten in „10“.
Foto: Cynthia Pinter

Sie tragen keine Namen. Auf die Bühne kommen sie durch eine Sperre. Manche haben die passende Münze dazu, andere nicht. Zehn Personen, zehn Türen, zehn Lebensgeschichten. Mit gewöhnlichen aber auch außergewöhnlichen Momenten ihres Daseins, einer moralischen Entscheidung, die in einem Punkt des Lebens getroffen werden muss und auf das Leben der nächsten Person eine entscheidende Auswirkung hat. „10“ lautet der Titel des Stückes, das an der rumänischen Abteilung des Radu-Stanca-Theaters am 1. Dezember uraufgeführt worden ist. Es ist das Projekt eines Teams um den Hermannstädter Regisseur Radu-Alexandru Nica, das von den zehn Geboten ausgeht. Als Textautor zeichnet Csaba Székely, für das Bühnenbild, Lichtdesign und die Videoaufnahmen Andu Dumitrescu und für die musikalische Untermalung Vlaicu Golcea. Zu der Vorstellung haben gleicherma-ßen die zehn jungen Schauspielerinnen und Schauspieler beigetragen, erklärte Nica bei der Pressekonferenz. Es ist großteils dasselbe Team, mit dem der Spielleiter bereits mehrere erfolgreiche Produktionen auf die Hermannstädter Bühne gebracht hat.

Jede der zehn Personen beginnt die Darstellung ihrer Geschichte mit dem Aufsagen eines der zehn Gebote. Der Gebote – besser noch Verbote –, die Gott vor Urzeiten dem Volk Israel mitgeteilt hat, um sein Verhalten ihm und den Mitmenschen gegenüber festzulegen. Die zehn Gebote, die als die Grundlage der Ethik in der vom Christentum geprägten europäischen Zivilisation gelten. Jedes Gebot prallt mit der Geschichte der jeweiligen Person zusammen, die von einer oder mehreren der Laster und Sünden unserer Gesellschaft betroffen ist. Habgier, Neid, Spielsucht, Zuhälterei, Prostitution, Diebstahl, sexueller Missbrauch von Mädchen durch Verwandte oder von Jungen durch Pfarrer, verlassene oder in Heime abgeschobene Kinder, Totschlag, Mord und Selbstmord, Ehebetrug, Homosexualität, Schönheitsideale als falsche Werte, Ärztepfusch und herablassende Behandlung der Patienten, Flucht in das gut bezahlte, aber riskante Dasein als Soldat im Afghanistan.

Das Stück besteht aus zehn Szenen mit jeweils einem Hauptprotagonisten, der sein Leben als derjenige präsentiert, der das jeweilige Gebot übertreten hat. Nach und nach entschlüsselt sich, dass alle zehn Personen, ihr Werden und ihre Existenz miteinander verwoben sind. Der als Fernsehserie strukturierte Mix aus Thriller und Seifenoper geht in raschem Tempo über die Bühne, in der Alltagssprache, die wiederholt in den Gossenjargon abrutscht und von anzüglichen Gesten begleitet wird, ohne jedoch die (heute allgemein akzeptierte) Grenze zur Vulgarität zu übertreten und obszön oder geschmacklos zu wirken. Hinter der lockeren und zuweilen humorvollen Darstellung der Vergehen und der Entwirrung der Verbindungen zwischen den Protagonisten verbergen sich traurige Geschichten, Verzweiflungen, Hinterfragungen. Hatte die in Not getriebene Person einfach kein Glück? Hat Gott seine Hand im Spiel bei Erfolgen? Sind Aufstieg, Geld und Luxus entscheidend für ein glückliches Leben? Wenn Gott Jesus am Kreuz hat sterben lassen, muss dann nicht auch jeder Mensch für sich selbst sehen, wie er durchkommt?

Die Fragestellungen auf der Bühne fußen auf der mehrjährigen Auseinandersetzung von Radu-Alexandru Nica mit der Problematik des Stellenwertes der Religion und der Kirche in der Gesellschaft. Gefragt hat er sich und er fragt das Publikum, ob die zehn Gebote heute noch Gültigkeit haben und in welchem Maß. Entsprechen die moralischen Vorstellungen des Judentums und des frühen Christentums noch den Notwendigkeiten der doch sehr verschiedenen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts? Bedarf es der Religion, um ein moralisches Leben zu führen? Die Fragen werden dem Publikum gestellt, sie sollen zu Emotionen und Nachdenken führen, Antworten werden keine gegeben, denn er kenne sie nicht, sagte der Regisseur auf der Pressekonferenz.

Erarbeitet wurde das Stück im Rahmen des europäischen Netzwerkes für darstellende Kunst und aktive Teilnahme des Publikums „Be SpectACTive!“, wo das Projekt 2014 beantragt wurde. Ursprünglich hatte Nica daran gedacht, eine Fusion von Kunst und Wissenschaft auf die Bühne zu bringen, um die Meinung und die Reaktion des Publikums herauszufordern, er stellte jedoch bald fest, dass das Einbringen der persönlichen Erfahrungen der Schauspieler eine bessere Lösung ist.

Der Textautor Csaba Székely, Jahrgang 1981, vermag es hervorragend, aktuelle Themen der Gesellschaft wie Nationalismus, Korruption oder Alkoholismus anzusprechen – wie in der Trilogie über das Dorfleben in Siebenbürgen geschehen, aus der in Hermannstadt „Orb de mină“ („Mineblindness“) gespielt wird. Radu-Alexandru Nica hatte sich an das Thema Glauben und Religiosität bereits 2009 in „Breaking the Waves“ („Viața lui Bess“) nach Lars von Trier herangewagt. Damals mit Pathos, mit großen Szenen. Diesmal tut er es mit Distanz, mit Empathie und zuweilen leichter Ironie. Die vom Dramaturgen verfremdeten und weiterentwickelten Erfahrungen der Darsteller wurden großartig inszeniert. Viel-leicht manchmal zu dicht bepackt mit Symbolen, aufgegriffenen Klischees und geflügelten Themen des Augenblicks, im Wunsch aktuell zu sein, das Publikum anzusprechen und herauszufordern.

Die Vorliebe von Radu-Alexandru Nica, Jahrgang 1979, für einen filmischen Ablauf des Theaters, für Filmskripts und Filmeinlagen ist seit seiner ersten Inszenierung „Wie feuere ich meinen Killer“ von Aki Kaurismäki 2004 bekannt. Es ist ein Theater mit bis ins kleinste Detail durchdachten Szenen, die absolut locker und natürlich ablaufen. Großartig die Idee, in der Darstellung der nächsten Person entscheidende Aussagen aus der Geschichte der vorangehenden Person als Rückblende zu wiederholen. Lobenswert ist die Leistung aller zehn Darsteller. Sie spielen nicht Theater, sie erleben auf der Bühne Alltag.