Zum Ende der Berlinale 2020: Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht

Am Sonntag endete die 70. Ausgabe der Filmfestspiele in Berlin. Es war die erste unter der Leitung des Duos Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Dass die Direktion nun durch eine Doppelspitze mit weiblicher Beteiligung repräsentiert wird, ist – wie so vieles bei diesem Festival – sicher kein Zufall. Vielmehr handelt es sich dabei um eine ideologische Botschaft. So hat sich das Festival politische Korrektheit auf die Fahnen geschrieben, ein Umstand, der in vielerlei Hinsicht zum Ausdruck kam, allen voran durch die Auswahl der Filme. Diese erfolgte nicht mehr wie zuvor mittels einzelner Betreuer, die das Angebot einer Region oder eines Landes filtern, sondern durch ein internationales Auswahlkomitee. Hier klingt bereits die alles bestimmende Maxime der Diversität an. Die Wettbewerbsfilme selbst widerspiegeln diesen Wunsch nach Vielfalt und Inklusion wie selten zuvor, und so verwundert es nicht, dass in Burhan Qurbanis Beitrag, einer neuen Version von Döblins Klassiker „Berlin Alexanderplatz“, die Ur-Berliner Dampfwalze in Menschengestalt, dieser unkontrollierbare, kriegsversehrte Wüterich Franz Biberkopf, nun gar nicht mehr Franz, sondern Francis heißt und ein Geflüchteter aus Ghana ist, der mit der Berliner Schnauze und den Gepflogenheiten der Unterwelt der deutschen Hauptstadt mal rein gar nichts am Hut hat. Dass dies, neben vielen anderen eklatanten und vollkommen unmotivierten Abweichungen vom Originaltext, einem krassen Verrat am Geist dieses Klassikers der Zwischenkriegszeit gleichkommt – geschenkt.

Die unter der Festivalkategorie Encounters laufende Adaption des Orpheus-Mythos von Regie-Urgestein Alexander Kluge schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn bei ihm der Sänger und Dichter nun plötzlich eine Sängerin und Dichterin namens Orphea ist. Und wenn man(n) schon beim Umschreiben von Weltliteratur ist, warum dann nicht auch gleich philippinische Slums, die Afterlife-Forschung im Silicon Valley sowie die Migrationsbewegungen in Europa in die Erzählung pressen.

Auch das neueste Werk von Andrew Levitas „Minamata“ mit Johnny Depp in der Hauptrolle, das in der Rubrik Berlinale Special Gala zu sehen war, passt in das Schema politisch engagierter Filme. Hierin geht Depp als Photograph Eugene Smith einer Quecksilbervergiftung nach, unter der die Bewohner des Fischerdorfs Minamata leiden und die – wie könnte es anders sein – ein skrupelloser Großindus-trieller zu verantworten hat. Unbedarft stolpert ein lächerlich auf alt gebürsteter Depp mit grauem Bart und Baskenmütze – die Mimikry der amerikanischen Filmindustrie kennt keine Grenzen, auch und erst recht nicht die des guten Geschmacks – durch das Szenario und verhilft am Ende durch seine Aufnahmen den Leidtragenden zu Gerechtigkeit – scheinbar, denn auch wenn der Film so endet, die Realität stellte sich gänzlich anders dar. So wurden die Opfer dieses Skandals niemals gebührend entschädigt und haben bis zum heutigen Tage mit den Folgen dieser Intoxikation zu kämpfen. Das breite Publikum ließ sich von diesen Tatsachen nicht stören und widmete diesem rührseligen Machwerk stehende Ovationen.

Die neue alte Stoßrichtung des Festivals ist also klar, es gilt (weiterhin), Zeichen zu setzen, der Welt zu signalisieren, hier bei der Berlinale sind Gutmenschen am Werk, für Zweideutiges oder gar politisch Zweifelhaftes ist nicht wirklich Raum. Dementsprechend konsequent auch die Vergabe des Hauptpreises, welcher an die iranische Produktion „There is no Evil“ des Regisseurs Mohammad Rasoulof ging und vier Varianten über Schuld, Moral und persönliche Verantwortung von Menschen in einem despotischen System reflektiert. Mit der Auszeichnung setzen die Verantwortlichen bei der Berlinale die Tradition fort, Filmemacher zu prämieren, die in ihrer Heimat alles riskieren, um ihre Geschichten zu erzählen und politisch zu wirken. Rasoulof erhielt keine Ausreisegenehmigung, um seine Arbeit in Berlin zu präsentieren. So blieb sein Stuhl bei der Preisverleihung leer. Bei der Vergabe des Preises also handelt es sich um eine politische, keine künstlerische Entscheidung der internationalen Jury unter dem Vorsitz von Jeremy Irons. Die britische Schauspiellegende leistete bei ihrer Antrittsrede übrigens eine Art Schwur und entschuldigte sich mit großer Geste für früher getätigte, von vielen als abwertend interpretierte Äußerungen über Homosexuelle, Frauen und Schwangerschaftsabbruch. Und so war es beinahe abzusehen, dass das Komitee das Abtreibungsdrama „Never rarely sometimes always“ der Amerikanerin Eliza Hittman mit dem Großen Preis der Jury bedachte. Dass es sich hierbei um ein stilles Werk voller Wahrhaftigkeit handelt, könnte bei der allgemeinen, zur Doktrin erhobenen ideologischen Ausrichtung des Festivals beinahe als nebensächlicher Zufall gewertet werden.