Zum Lebensende täglich Schokoladentorte

Lesung der Autorin Marjana Gaponenko aus ihrem deutschen Roman „Wer ist Martha?“

Marjana Gaponenko

Die Autorin bei der Lesung im Kulturhaus „Friedrich Schiller“ am 28. November, der auch der deutsche Botschafter Werner Hans Lauk beiwohnte. Die Veranstaltung wurde moderiert von Prof. Dr. Mariana-Virginia Lăzărescu (Univ. Bukarest), Vizepräsidentin des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes, die sich für interkulturelle Aktivitäten in deutscher Sprache und die Förderung deutscher Literatur einsetzt und die Autorin nach Bukarest eingeladen hatte.
Fotos: George Dumitriu

Er muss uralt gewesen sein, erinnert sie sich an den Herrn im Salon des Wiener Nobelhotels. Keine Haare und keine Zähne mehr – doch überaus elegant gekleidet. Vor ihm ein riesengroßer Eisbecher mit einem bunten Sonnenschirmchen drauf. Sichtlich freute er sich darüber, bemerkte die junge Frau. Sonst weiß sie nichts über ihn. Doch der Moment des Erstaunens brennt den flüchtigen Eindruck zu einem stabilen Bild. Genau richtig als Kontur für die Hauptfigur in ihrem zweiten Roman. Der komische Vogel, der, wie sie sagt, bis zu seinem Ende schillern soll, wird mit Daten, Eigenschaften und Eigenheiten gefüllt und vom Beobachteten zum Beobachter verkehrt: Luka Lewadski, geboren in Lemberg, 96 Jahre alt, Ornithologe. Durch ihn erforscht sie schreibend eine selbstgeschaffene Parallelwelt. Verschmilzt ihn mit der Stadt ihrer Kindheit: Odessa.

Seinen Hausarzt würde er nie wieder anrufen und sich statt dessen jeden Tag ein Stück Schokoladentorte gönnen, lässt sie ihn rebellieren. Und: Bis zu seinem Tod wolle er keine karierten Taschentücher mehr benutzten, nur noch weiße. „Es ist wichtig zu sterben, wo man sich wohlfühlt“, erklärt Marjana Gaponenko die Entscheidung ihres todkranken Romanhelden, aus Odessa nach Wien zurückzukehren, um seine letzten Tage in einem Nobelhotel in der Stadt seiner Kindheit zu verbringen.

Meisterin der Kontraste

Tiefe und Leichtigkeit; erlebte und erdachte Wahrheit – unter der unschuldigen Stimme der Schriftstellerin verschmelzen sie zu einem glaubhaften Gefüge. Mit apfelfrischen Wangen, umrahmt von pechschwarzem Haar, liest das ukrainische Schneewittchen am 28. November im Kulturhaus „Friedrich Schiller“ aus ihrem jüngsten Werk – auf Deutsch: „Wer ist Martha?“ Es gibt darin keinen Dialog, den sie nicht selbst gehört und aufgeschrieben hat, in all den Stunden im Salon des Wiener Nobelhotels, in dem Lewadski sterben sollte. Sogar mit dem Fernglas – einem solchen, das Ornithologen mit sich führen – beobachtet sie manchmal Menschen, gesteht die Autorin.
Gaponenko spielt mit der Zeit, hält uns die Lupe für sonst unsichtbare Details vor Augen – und den Zeitraffer des Alltags an. Ihre Worte schaffen Brücken, auf denen man zwischen Gegensätzen mühelos hin- und hergleiten kann: Heimat und Fremde; Schönheit oder Tristesse; Humor und Groteske; die in sich gekehrte, kauzige Verschlossenheit oder die abenteuerliche Kontaktfreude, der sich Lewadski erst auf der letzten Reise seines Lebens hinzugeben wagt. Alles oder Nichts.

Bilderbuchkarriere

Kontraste prägen auch den Weg der Autorin: geboren 1981 in Odessa, heute lebt sie in Wien. Ihre Muttersprache ist Russisch, doch mit 14 schrieb sie ihr erstes Gedicht auf Deutsch – einer Sprache, die sie in der Schule lernte und für die sie bis heute eine tiefe Leidenschaft empfindet. Es folgten zahlreiche lyrische Publikationen, 2000 ein erster Gedichtband: „Wie tränenlose Ritter“, dann  „Tanz vor dem Gewitter“ (2001), „Freund“ (2002), „Reise in die Ferne“ (2003), „Nachtflug“ (2007) und „Die Löwenschule“. Ihre Gedichte wurden ins Englische, Französische, Italienische, Polnische, Rumänische und Türkische übersetzt. Die Zeitschrift „Deutsche Sprachwelt“ kürte sie 2001 zur Autorin des Jahres, 2002 war sie Gastautorin im Literaturhaus Niederösterreich. 2010 erschien ihr erster Roman, „Annuschka Blume“. Es folgte „Wer ist Martha?“, wofür sie 2013 mit dem Chamisso-Preis für Literatur durch die Robert-Bosch-Stiftung ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr erhielt sie den österreichischen Literaturpreis Alpha. Eine Bilderbuchkarriere.

Und doch bekennt die studierte Germanistin, den Durchbruch 15 Jahre lang schmerzlich herbeigesehnt zu haben. „Ich habe gewartet“, sagt sie und blickt lange schweigend in die Runde. Schon wollte sie aufhören, ein für alle Male. „Aber ich habe die Bücher natürlich geschrieben“, relativiert sie dann mit zuckersüßem Lächeln und einer Prise Ironie.

Aus der vom Warten mürben Hobbydichterin ist längst eine weltgewandte Autorin geworden – die potenziellen Lesern freilich nicht vorzeitig preisgibt, was es mit der geheimnisvollen Martha auf sich hat...
Prof. Dr. Mariana-Virginia Lăzărescu, die die Veranstaltung im Schillerhaus moderierte, hatte die deutsche Schriftstellerin bei der Verleihung des Chamisso-Preises in München kennengelernt und  für die Lesung in Bukarest gewinnen können. Was ihr die Anerkennung und Auszeichnungen bedeuten, fragte sie die junge Frau.

„Freude, Stolz“, bekennt sie, denn „man kann sich ja von sich nicht trennen“. Dann bedient sie wieder einen dieser unerwarteten Kontraste: „Vielleicht werde ich ja irgendwann einmal gar nicht mehr schreiben, im Alter... und nur noch die Stille zulassen. Es erscheint mir möglich“, sagt sie schlicht. Mit dem Bekenntnis habe sie schon viele Menschen glücklich gemacht – meist ältere Leute, die dann nach Lesungen mit Tränen in den Augen auf sie zukamen, gesteht sie, und ergänzt flüsternd: „Das ist wichtiger als all die Preise.“