„Zwischen den Lauten a und o erstreckt sich eine ganze Welt“

Slow Down! – Langsamer! Oder was man von „speziellen“ Kindern lernen kann

Foto: FNT/Adrian Pîclișan

„Wir haben alle das Recht auf ein außerordentliches Leben.“ Mit diesen Worten führte die Intendantin des Temeswarer Mihai-Eminescu-Nationaltheaters, Ada Hausvater, die Premiere zum Dokumentartheaterstück „Slow Down! Mai încet!“ von Mihaela Michailov, in der Regie von Horia Suru ein. „Slow down!“, tritt kürzer, und erwische einen kleinen Einblick in die Welt von Eltern und Kindern mit Einschränkungen. Slow Down! – Langsam! Alles geht viel langsamer für Kinder, die eine physische oder psychische Beeinträchtigung haben. Die Meilensteine kommen langsamer: das erste Rollen, das Kriechen, das Krabbeln, das Sitzen, das Formen von Lauten, Silben, Wörtern usw. Oft dauert es Jahre, bis ein erstes „Mama“ zu hören ist, wenn überhaupt – und das tut weh.

Die jüngste Inszenierung des Temeswarer Theaters versucht einerseits, die verschiedensten Facetten und Lebensbereiche zu erfassen, die eine solche „Diagnose“ für eine Familie mit sich bringt, andererseits, hervorzuheben, was diese Kinder können. Denn diese „speziellen“ Kinder, wie sie oft genannt werden, haben häufig Fähigkeiten, die keiner bemerkt oder schätzt, manchmal nicht einmal die eigenen Eltern, die so auf Therapien fokussiert sind. Die 13 Schauspieler der Temeswarer Nationaltheaters spielen „ehrlich“, ihr Talent wird durch ein größtenteils schlichtes Bühnenbild (von Bianca Veșteman) gefordert, es findet immer wieder auch ein Dialog mit dem Publikum statt. 

Das Premierenpublikum ist sehr jung und umfasst auch solches, das wohl eher selten dazu kommt, einen Theaterbesuch einzuplanen: Eltern und Betreuer, Therapeuten und Sozialarbeiter, die die Kinder und Familien unterstützen, Menschen also, um die es im Stück geht; denn ja, es geht um Geschichten, um Erlebnisse und das Leben von Personen, wie es sie überall um einen herum gibt. Dann beginnt das Stück mit der wiederholten Frage „Neben dir ist ein Platz frei, dort, neben dir, da könnte ich sein, siehst DU mich?“ Ob im Bus, im Supermarkt, an der Straßenkreuzung, in der Bank, auf dem Spielplatz oder in der Schule, der leere Platz steht wahrscheinlich für Personen, deren Teilhabe am normalen Alltag eingeschränkt ist, denn Barrierefreiheit ist in den wenigsten aufgezählten Situationen gegeben. Und dieser leere Platz steht oft im Stück für Kinder mit bestimmten Einschränkungen.

Das Bühnenbild wechselt: In einer kleinen Wohnung feiert ein Paar den 18. Geburtstag ihres Kindes, das durch einen leeren Stuhl dargestellt wird – eine Metapher, die mit leeren Rollstühlen im Stück wiederholt wird. Kameras kommen zum Einsatz, die Mimik und Körpersprache des Schauspielerpaars Claudia Ieremia und Matei Chioariu steht im Fokus, denn es gibt keinen Dialog. Der Zuschauer bekommt irgendwann einen Knoten im Hals.

Und dann beginnt eine neue Geschichte: Ein Mädchen kommt zur Welt, der Arzt sagt den Eltern, dass der kleine schöne Wonneproppen mit geöffnetem Mund und herausgestreckter Zunge halb normal, halb „unnormal“ sei. In den nächsten zehn Minuten begleitet das Publikum das Elternpaar durch die verschiedenen Stadien ihrer Erkenntnis und des Umgangs mit dem Kind, das spät spricht, allen anderen Gleichaltrigen um Jahre beim Erwerb neuer Fähigkeiten und Kenntnisse hinterherhinkt und irgendwann auch mit 40 noch ein Kind ist, auch wenn der Staat es ab 18 auf sich allein gestellt lässt, den Eltern die Vormundschaft aberkennt.

Eine nächste Geschichte erzählt von einem zunächst totgeglaubten Frühchen, das überlebt, die Ängste der Mutter um jedes zugenommene Gramm, um die vielen, mit Frühgeburt verbundenen Komplikationen, den Glauben daran, dass die schlechten Prognosen nicht eintreffen, verzögerte Erfolgserlebnisse, aber auch die Herausforderungen, mit einem Kind zu leben, das zu hundert Prozent abhängig ist, ein Leben, dem jede Spontaneität verwehrt bleibt, bei dem alles geplant und dem Kind alles erklärt und oft wiederholt werden muss. Und das alles wird von den Schauspielerinnen mit so warmer Stimme erzählt, dass sich der ganze Theatersaal mit der Liebe der Mutter zum Kind und umgekehrt zu füllen scheint. Beim Publikum fließen die ersten Tränen: Das Mädchen Roxana, um das es geht, wird auf die Bühne geführt und freut sich ob des Beifalls, aber auch einer Videobotschaft, die es von der rumänischen Popsängerin Andra bekommt. Schauspieler singen für das Mädchen Andras Lied „Pas cu pas“. Es klingt wie ein Wiegenlied und noch nie hat man den Text aus dieser Perspektive gehört.

Es folgen Szenen auf dem Spielplatz, im Straßenverkehr, die Auseinandersetzung mit überforderten Lehrkräften und müde gewordenen, überlasteten Eltern, mit begeisterten Logopäden und dann mit den Kindern, um die es eigentlich geht. „Rona e fericită, draga de ea“ – „Roxi e în extaz! De două zile nu a mai mâncat de emoții“ (Rona ist glücklich, die Liebste. / Roxi ist ganz außer sich! Vor Aufregung hat sie zwei Tage schon nicht mehr gegessen), sprechen Frauen im Publikum halbleise, die die beiden Mädchen wahrscheinlich aus dem städtischen Frühförderzentrum „Podul Lung“ kennen.

Es sind starke Bilder, viel Poesie, Gesang und Videokunst (Horia Suru), Choreografie (Florin Fieroiu), eine große Portion Empathie und eine Handvoll Kinder, die für jeden Schritt, jede Geste, jeden Laut und jeden Fortschritt an der Seite ihrer Eltern, Therapeuten und Lehrer kämpfen. Slow Down! – ein Theaterstück über ein neues Miteinander in der europäischen Kulturhauptstadt, die zur Teilhabe auch jene einlädt, für die es im Alltag (noch) nicht immer einen Platz gibt... Aber vielleicht auch, sich zu überlegen, wofür man täglich durch den Alltag hetzt und wofür man sich heutzutage überhaupt noch die Zeit (und die Aufmerksamkeit) nimmt. Die nächste Vorstellung ist am 1. April.