Ikone des Widerstands von 2017 gestorben

Mihai Șora blickte auf ein Jahrhundertleben zurück

Bukarest (ADZ) – Als er am 7. November 1916 in einem Dorf unweit der damaligen königlich-ungarischen Freistadt Temesvár in der Familie eines rumänisch-orthodoxen Priesters geboren wurde, tobte der Erste Weltkrieg und Franz Joseph I., dem Greis auf dem Wiener Kaiserthron, sollten noch genau zwei Wochen beschieden sein. Als er am Samstag im Alter von 106 Jahren in Bukarest verstarb, jährte sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zum ersten Mal: In seiner letzten auf Facebook veröffentlichten Botschaft dachte der Philosoph und Essayist Mihai Șora an das kämpfende Nachbarvolk. Heute wurde er in Bukarest unter relativ hoher Anteilnahme zu Grabe getragen.

In Ianova geboren, besuchte Șora die Allgemeinschule in Izvin und das Constantin-Diaconovici-Loga-Lyzeum in Temeswar, einer Schule, der er stets verbunden war und sie das letzte Mal zu ihrem hundertjährigen Jubiläum im Jahre 2019 besucht hat. Zwischen 1934 und 1938 studierte Șora in Bukarest Philosophie, zu seinen Professoren zählten die umstrittenen Nae Ionescu und Mircea Vulcănescu, aber auch sein späterer Freund Mircea Eliade. 1938 bekam er ein Stipendium für ein Doktoratstudium in Paris, 1940 floh er jedoch aus dem besetzten Paris in den zunächst noch unbesetzten Teil Frankreichs, nach Grenoble, wo er bei Jacques Chevalier, einem katholischen Philosophen, über Blaise Pascal promovierte. Unter dem Eindruck der Nazi-Herrschaft und den von den Deutschen in Frankreich angerichteten Gräueln wird Șora Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Nach dem Krieg arbeitet er bei einem Forschungszentrum in Paris, 1947 veröffentlicht er ein philosophisches Buch, das in der linken Szene der französischen Hauptstadt hohe Wellen schlägt und ihm das zurückgewiesene Angebot der französischen Staatsbürgerschaft einbringt.

1948 reist er nach Rumänien, um seine Eltern zu besuchen, doch die Ausreise wird ihm verweigert. Frau und Kinder müssen ihm nachfolgen und so bleibt er in Bukarest, wo er zwischen 1948 und 1951 als Referent im von Ana Pauker geleiteten Außenministerium arbeitet. Ab dann wird er Abteilungsleiter im Verlag für Auslandssprachen und dann Chefredakteur des Staatsverlags für Literatur und Kunst, wo er eine im kommunistischen Rumänien äußerst beliebte Reihe neu gründet, die „Biblioteca pentru toți“. Es gelingt ihm dort, eine Anthologie rumänischer Lyrik der Zwischenkriegszeit herauszubringen, weil er aber auch faschistische Dichter wie Nichifor Crainic und Radu Gyr aufnimmt, verliert er seine Stelle und arbeitet bis zur Rente als einfacher Redakteur des Enzyklopädischen Verlags.

Nach der Wende wird er für kurze Zeit Bildungsminister, nach den Gewalttaten der Bergleute im Juni 1990 scheidet er aus der damaligen FSN-Regierung aus. Als 100-Jähriger beteiligt sich Șora im Winter 2017 an den Protesten gegen die PSD-Regierung und wird zu einer Ikone des Widerstands gegen die damals geplanten Änderungen der Justizgesetze. Nach 2017 und vor allem während der Covid-19-Pandemie wird Șora über seine fast täglichen Veröffentlichungen bei Facebook, wo ihm mittlerweile 287.000 folgten, zu einer Stimme der Vernunft, zu einem Mahner und einem Aufklärer.

Die mediale Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwird, sorgt für zahlreiche Diskussionen über seine kommunistische Vergangenheit, von seinen Gegnern wird er immer wieder als enger Mitarbeiter Ana Paukers dargestellt. Historiker und Politologen wie Dorin Dobrincu und Vladimir Tismăneanu verteidigen ihn als einen Geläuterten, als einen, der schnell erkannt hat, wie es um den Kommunismus tatsächlich bestellt ist. Șora habe sich nicht im Propaganda-Apparat der kommunistischen Diktatur und auch nicht in der Securitate verdient, schrieb Dobrincu 2019. Für Tismăneanu war Șora ein Symbol für eine in Rumänien stark vermisste Ethik der Verantwortung. Man müsse ihn in derselben Reihe mit Gestalten wie Boris Souvarine, Panait Istrati, François Furet, Arthur Koestler, Tibor Déry, Edgar Morin, Ágnes Heller, Annie Kriegel, Aleksander Wat oder Leszek Kolakowski einordnen, er gehöre zu jenen Intelektuellen des 20. Jahrhunderts, die in der Lage waren, die Wahrheit zu erkennen und sich von ihren kommunistischen Träumereien zu verabschieden, so Tism˛neanu über [ora zu dessen 106. Geburtstag im vergangenen November.