„Wie die Deutschen so sind“

Feinfühlige Dokumentationen eines Bildreporters von Welt

„Je kleiner das Dorf, desto freundlicher die Leute“, findet Jörg Müller. Foto: Klaus Philippi

Hermannstadt – „In zehn Jahren wird sie, glaube ich, nicht mehr ganz so deutsch sein, wie sie heute ist“, schickt die trotz allem Vermischen von Kulturen nicht unzufrieden wirkende Auswanderer-Nachfahrin Ivone Lemke ihrer brasilianischen Heimatstadt Pomerode voraus. Sie ist eine von fünf Personen weltweit, bei denen Fotograf Jörg Müller (Jahrgang 1966) aus Hamburg für die Wanderausstellung seines neuesten und wohl größten Langzeitprojekts ganz besonders genau nachgefragt hat. Stolze 90 Prozent der 33.000-Einwohner-Stadt Pomerode können mit Fug und Recht behaupten, von den pommerschen Siedlern abzustammen, die 1861 auf dem Seeweg ihre Urheimat verließen und 1000 Kilometer südlich von Rio de Janeiro wieder sesshaft wurden. „Unter den Jüngeren verschwindet die Sprache“, wie auch Bildreporter Jörg Müller Dienstagabend, am 22. November, während der Vernissage der Ausstellung „5 x Deutschland in aller Welt“ auf drei Ebenen im Foyer des philharmonischen Thaliasaales in Hermannstadt/Sibiu dem „prosperierenden Stück Deutschland“ an der süd-amerikanischen Atlantik-Küste bestätigte. Umgerechnet fünf bis sechs Euro kostet eine Flasche Bier in den Supermärkten von Pomerode, der „deutschesten Stadt Brasiliens“. Und es wird dort auch tatsächlich in gesunden Mengen konsumiert, das nach deutschem Reinheitsgebot gebraute Alkoholgetränk. Brasilien ist nicht ohne Grund Standort der größten Biermesse der Welt. „Wie Wein“ würden die Einheimischen den schäumenden Durstlöscher trinken.

Insgesamt zehnmal hat Jörg Müller Mexiko, Brasilien, Südafrika, Russland und Rumänien binnen fünf Jahren ab 2014 bereist. Von seinem Wunsch zur Foto-Reportage deutschen Lebens auf fünf Kontinenten erhoffte er sich ein Aufbrechen der Routine des stets unter Zeitdruck zu leistenden Arbeitens als Freischaffender für Hochglanzmagazine wie GEO, National Geographic, Brigitte oder Der Spiegel. „Für Zeitschriften mache ich wegen der kurzen Zeit inszenierte Bilder. Ich weiß, was die brauchen, aber richtig frei ist das nicht.“ Mehr als zwei Wochen für Bildreportagen dieser Sparte wären niemals drin. Um hingegen Land und Leute eines gewissen Recherche-Terrains wirklich mit Tiefgang zu verstehen, müsse man „mindestens drei Wochen lang“ zu Gast sein. Dem Fotografen der Wanderausstellung „5 x Deutschland in aller Welt“ ist es dank der Unterstützung von Förderern größtenteils gelungen, alles andere als nur Stippvisiten zu unternehmen. Der Plan hätte nicht besser aufgehen können.

Überall waren „Pastoren und Deutschlehrer“ seine Begleiter und Vermittler, die ihm den Zugang zu Kontaktpersonen erleichterten und ihn vielleicht auch vorab mancher Begegnungen über das ein oder andere kulturell spezifische Fettnäpfchen aufklärten. Als Jörg Müller die Mennoniten der Manitoba-Kolonie im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua besuchte, hatte er die Expedition zu den etwas mehr als 350 Russlanddeutschen der knapp 500 Einwohner zählenden Gemeinde Litkowka in Sibirien bereits abgeschlossen. Das Plautdietsch – den plattdeutschen Dialekt, den die Mennoniten in ihren Familien gebrauchen – würden, wo sogar Jörg Müller als ein Hamburger und weitgereister Fotograf es kaum versteht, auch die Russlanddeutschen bestimmt nicht entschlüsseln können. Der Recherche-Zielgemeinschaft in Mexiko jedoch zeigte er auf seinem Smartphone Fotos deutscher Kuchenrezepte aus Russland, und in den Schnappschüssen der Backblechinhalte erkannten sich die sehr protestantischen Mennoniten haargenau wieder, hatte ihre Enklave doch vor grauer Vergangenheit selber auch einmal in Russland eine Heimat auf Zeit gefunden.

Kirchgang und Spielen im Posaunenchor sind selbstverständlich zwei von mehreren Konstanten im Alltag protestantisch deutscher Gemeinschaften auf der ganzen Welt, die sich im 19. Jahrhundert niederließen und dem konfessionellen Missionieren in der jeweils neuen Heimat nicht eben abgeneigt waren. Auch die Deutschen im südafrikanischen Wartburg und Region, infolge von Hungersnot und Teuerung aus der Lüneburger Heide dreieinhalb Monate lang über den Atlantik ausgewandert, schufen hiervon keine Ausnahme. Im brasilianischen Pomerode gar wird es mit der Reformation, der „protestantischen Disziplin“ und dem „deutschen Arbeitsethos“ so ernst gehalten, dass Karneval, weil ein katholisch begründetes Fest, „bis heute nicht gefeiert wird“.

Auf der anderen Seite dafür hat Jörg Müller unterwegs ohne viel Schwierigkeiten Fotos machen können, die „in Deutschland nicht möglich“ gewesen wären. „Die meisten haben mehr Humor als die Deutschen“, sagt er nicht ohne Augenzwinkern als ein Fotograf und Reporter, dem „der östliche Teil Deutschlands spannender ist als der westliche“, und der es zu Gast bei einem handfesten Bauern und Zipser in der Region Oberwischau/Vișeu de Sus in Rumänien nicht wagte, nach draußen begleitetem Arbeiten mit der Heugabel drinnen in der guten Stube nur 11 statt obligatorische 12 Gläschen Obstbrand zu stürzen. Dass Einheimische der Maramuresch dabei bis zu 50 Kilometer Fahrt auf sich nähmen, um nirgendwo sonst als bei Lidl einzukaufen, kann Jörg Müller, daheim in Deutschland den Märkten verfallen, dagegen nicht verstehen. Dreimal hat es ihn zu den katholischen Zipsern verschlagen.

Seine Eltern – die Mutter aus Ostpreußen, der Vater aus Pommern – waren wegen des Zweiten Weltkriegs in den Westen geflohen, gab Jörg Müller zur Eröffnung seiner reichen Wanderausstellung „5 x Deutschland in aller Welt“ in Hermannstadt schließlich auch sich selbst zu erkennen. Von klein auf habe er „Europa von West nach Ost gedacht“, sich aber spätestens als Fotograf auf Reisen davon überzeugt, was für Vorteilen ein Denk-Umkehren die Bühne ebnet. Denn „es gibt Brücken in der ganzen Welt, die für Deutschland sehr nützlich sind.“ Zum „Neudenken von Zentrum und Peripherie“ in Kunst und Kultur rät auch Dr. Joachim Umlauf, Leiter des Goethe-Instituts Bukarest. „Brücken“ müssen ihre Funktion erfüllen, doch nicht identischer Bauart sein. Weil „die deutschen Minderheiten überall in der Welt verschieden sind“, wie Ana-Maria Daneș als Leiterin des Deutschen Kulturzentrums Hermannstadt mit in den Raum stellt, liegt es auf der Hand, sich mindestens eine oder noch mehr Stunden Besichtigungszeit für die Wanderausstellung von Jörg Müller im Thaliasaal zu nehmen. Sie schließt Mittwoch, am 14. Dezember.